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Blick nach dem Osten

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Auch wenn Wien sein Antlitz in den Rebenhügeln des südlichen und westlichen Wienerwaldes vergrub, um die ständige Bedrohung von Awaren, Madjaren und Türken nicht immer vor Augen zu haben, so hatte die Stadt und das Land dennoch seine Boten nach Osten geschickt, war seit Jahrhunderten Umschlagplatz aller Güter aus West und Ost, Nord und Süd. Österreichs Wesen, seine geopolitische Struktur, die entscheidend auch für Seine Kulturmission war und noch immer ist, werden nach Hugo von Hofmannsthal von einer „inneren Polarität bestimmt. Es ist jene Antithese, die sie in sich schließt: zugleich Grenzmark, Grenzwall, Abschluß zu sein zwischen dem europäischen Imperium und einem, dessen Toren vorlagernden, stets chaotisch bewegten Völkergemenge halb Europa, halb Asien und zugleich fließende Grenze zu sein. Ausgangspunkt der Kolonisation der Penetration, der sich nach Osten fortpflanzenden Kulturwellen, ja empfangend auch wieder und bereit zu empfangen, die westwärts strebende Gegenwelle.“ Die nach Osten gerichtete Tendenz der friedlichen Besiedlung hatte in den besten Geistern unseres Landes früh das Organ für die fruchtbare Spannung zwischen West und Ost geschärft, so daß gerade hier, aus diesen polaren Gegensätzen, zwischen den Kulturmittelpunkten Rom und Byzanz ein geistiges Klima entstehen mußte, das alle Möglichkeiten eines übervölkischen Kulturaustausches in sich barg. Wenn man bedenkt, daß die 1549 erschienenen „Rerum Moscovitorum Commentarii“ des Krainers Siegmund von Herberstein europäische Geltung erlangten und selbst von Russen als erste aufschlußreiche Schrift über ihr Land anerkannt wurden, dann kann man 'ich der Einsicht nicht verschließen, daß Österreich, dessen Menschen zur Erfassung selbst weit entfernter Völker begabt waren, für die Individualität seiner unmittelbaren Nachbarn und Hausgenossen fremder Zunge im höchsten Maße aufgeschlossen war. Diese geistige Atmosphäre, nicht von den Bedingungen der Politik bestimmt, ermöglichte es dann im neunzehnten Jahrhundert den österreichischen Dichtern, die Dichtung des Südostens und Ostens „mitzuerleben“ und dem eigenen Volke künstlerisch zu vermitteln.

Die Reihe „Das Österreichische Wort“, die ihren fünfzigsten Band längst überschritten hat, hält in einigen Bänden diesen „Blick nach Osten“ besonders fest. Blättert man in den Bänden 3 (Anton Graf Prokesch-Osten: „Abendland — Morgenland“), 11 (Leopold von Sacher-Masoch: „Dunkel ist dein Herz, Europa“), 13 (Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall: „An der Schwelle zum Orient“), 29 (lacob Philipp Fallmerayer: „Der Fragmentist“) und 36 (Karl Emil Franzos: „Halb-Asien“), dann treten diese Situation und ihre Aufgabe besonders deutlich in Erscheinung.

Genau 130 Jahre liegen zwischen der Geburt Joseph von Hammer-Purgstalls (1774 bis 1856) und dem Tode Karl Emil Franzos' (1848 bis 1904). Hatte der „Sprachknabe“ Hammer, wie man damals die Attaches nannte, die „Schwelle zum Orient“ betreten, das Tor zur türkisch-arabisch-ägyptischen und zur persischen Welt des Hafis aufgestoßen, so weht uns bei Franzos von der österreichisch-russischen Grenze, aus seinem Geburtsort Czarkow, ein Hauch „Halb-Asiens“ entgegen. Hammer-Purgstall war aus der von Maria Theresia gegründeten „Akademie der orientalischen Sprachen“ hervorgegangen und ist ihre leuchtendste Blüte geworden. Als Legationssekretär und gelehrter Orientalist, dem Goethe seinen „Westöstlichen Divan“ dankt, hat er den fortwirkenden Auftrag der großen Kaiserin erfüllt und den Boden bereitet, der Österreichs Verhältnis zur „Pforte“ auf eine völlig neue Basis stellen sollte. Erzherzog Johann (1782—18 59) und Anton Graf Prokesch-Osten (1795—1876), die beiden anderen Steirer, konnten dann schon die Früchte der HammeT-Purgstallschen Saat ernten. Beide wurden vom „türkischen Erbfeind“ mit Ehren ausgezeichnet, von denen man sich im Wien zu Zeiten des Prinzen Eugen nichts hatte träumen lassen. Beide haben auch am jungen Hof des unabhängig gewordenen Griechenland als Beobachter und Ratgeber gewirkt. Prokesch-Osten verdanken wir die klassisch gewordene Darstellung des griechischen Freiheitskampfes: „Geschichte des Abfalles der Griechen vom türkischen Reiche im Jahre 1821 und die Gründung des Hellenischen Königreiches.“

In einer Zeit, da die Mächte des Abendlandes sich noch als die Beherrscher der Welt dünkten, haben Hammer-Purgstall, der Begründer der Wiener Akademie der Wissenschaften, Prokesch-Osten, der feinsinnige Diplomat und Historiker, und der Südtiroler lacob Philipp Fallmerayer (1790—1861), ebenfalls ein sehr bedeutender Historiker, der den Zeitgenossen als berühmter „Fragmentist“ ein Begriff war, den wachen Geistern den Blick für die Probleme des Ostens geschärft. Sie haben dem Abendländer nicht nur eine neue Stoffwelt erschlossen, einem neuen Griechenbild (Fallmerayer) vorgearbeitet, sondern auch und vor allem vor eineT Bagatellisierung der „Ostprobleme“ gewarnt, wie dies auch schon Tocqueville (1835) vorausschauend getan hat.

Die Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch und Karl Emil Franzos haben dann im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts den Hauch „Zwischeneuropas“ in ihren Schriften eingefangen, jenes Zwischeneuropa, das Otto Forst-Battaglia glänzend charakterisiert hat: „Östlich die unendlichen Weiten der eurasiati-schen Ebenen, westlich die feindifferenzierte Enge und Vielfalt des eigentlichen Abendlandes. Mitteleuropa dazwischen ist nicht nur Okzident, und es ist noch nicht ganz Orient. Es hat bald und in weiterem Umfang dem Westen, bald dem Osten zugehört; es hat seine offenen Grenzen in den Alpen und seine klaffenden Grenzen, von der Düna bis zur Donaumündung, mehrmals verändert. Und diese Grenzen bluteten, denn sie waren der Schauplatz, der Anlaß und das Ziel für Wanderungen, die Jahre — für Kriege, die Jahrzehnte — für Erbfeindschaften, die Jahrhunderte dauerten.“

Es tut gerade heute not, sich dieser Entwicklungen und Sachverhalte, von denen die angeführten Stiasny-Bändchen einen instruktiven Querschnitt geben, wieder in Erinnerung zu rufen: zum Verständnis des „anderen“ und des eigenen Selbst. Ernst Joseph Gör-licW gehäTtvcflle und' wohlfundierte Einleitungen ' zu' den ' Bänden Prokesch-Osten, Fallmerayer, Sacher-Masoch und Franzos helfen sehr, diesen Zeiträumen österreichischer Vergangenheit objektiv gegenüberzutreten, weil sie mit „Vorurteilen“ aufräumen und das Übervölkische der versunkenen Monarchie als Wesenskern des Österreichischen herausschälen. Das Ham-mer-Purgstall-Bändchen, in dem man gerne mehr „Orientalisches“ gelesen hätte, wurde von Karl Ludwig Weber ausgewählt und eingeleitet, wobei auf die Lebenstragik des lange Zeit verkannten großen Gelehrten besonders eingegangen wird. „Paradigma eines österreichischen Schicksals“!

Die Stimmen aus Österreichs Vergangenheit erinnern uns an die immer noch lebendige Aufgabe Österreichs, an unser Verantwortung gegenüber dem Osten, die- auch unter - geänderten Verhältnissen weiterbesteht, ja in dem klein gewordenen Österreich womöglich noch größer geworden ist.

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