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Blider aus der Vorzeil

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Am '18. Dezember 1995 wollte eine Gruppe von Höhlenforschern in Südfrankreich, unter ihnen eine Frau, Eliette, den kalten, aber schönen Wintersonntag nutzen und sich im Tal der Ardeche nördlich von Marseille eine kleine Höhle näher ansehen. Sie waren ein eingespieltes Team, kannten viele Höhlen und hatten auch schon zahlreiche prähistorische Zeichnungen entdeckt.

Es war 15 Uhr, als sie zwei Meter über einem engen Maultierpfad durch einen engen Eingang in einen Felsgang krochen, an dessen Ende ein schwacher, kühler Lufthauch zu spüren war. Sie befürchteten, daß der Gang nach wenigen Metern wieder im Freien münden würde, räumten Steine weg, arbeiteten sich weiter, plötzlich blickte Üliette, die mit den Armen voran abwärtskroch, in einen zehn Meter tiefen Schlund.

Um 18.30 Uhr stiegen sie zu ihrem Lieferwagen ab, holten Strickleitern, stiegen nach Minuten der Unschlüssigkeit, ob sie das Unternehmen nicht bis Weihnachten verschieben sollten - sie waren bereits sehr müde —; noch einmal zur Höhle auf und seilten sich in den Schacht ab. Er war breit und sie konnten die Wände nicht sehen. Dann standen sie in einer 15 Meter hohen, mindestens 50 Meter langen Galerie mit riesigen Tropfsteinsäulen und funkelnden Sinterbildungen.

Als sie auf den Roden blickten, sahen sie eine Menge von versinterten Rärenknochen und -zahnen. Um nichts zu beschädigen, gingen sie vorsichtig im Gänsemarsch weiter. Daß sie eine bedeutende Entdeckung gemacht hatten, war ihnen bereits klar.

Plötzlich stieß Eliette einen Schrei aus. Im Schein ihrer Stirnlampe hatte sie auf dem Felsen zwei wenige Zentimeter lange rote Streifen gesehen. Sekunden später waren sie alle fassungslos. An der Decke sprang ihnen ein kleines Mammut ins Auge. Dann an der Wand ein sich aufrichtender roter Rar, einen Meter hoch. Dann ein seltsames Zeichen. Und dann, in Sekundenabständen, ein Nashorn mit gewaltigem, gebogenem Horn, ein Mammut, ein Löwe, auf

zehn Meter Länge Tiere über Tiere.

Ohne Übertreibung: Am 18. Dezember 1995 wurde eine der größten Urgeschichte-Entdeckungen des 20. Jahrhunderts gemacht. Zum Glück von Menschen, die sich der Redeutung des Fundes sofort bewußt waren. Sie verrammelten den Eingang wieder mit Steinen und fuhren heim. Ihre gestammelten Erzählungen machten die Tochter der Forscherin so neugierig, daß sie ihr die Höhle noch in derselben Nacht zeigen mußten. Dann zogen sie weitere vertrauenswürdige Höhlenforscher bei. Sie kannten und beachteten alle Vorsichtsmaßnahmen. In der Höhle durfte nichts gegessen werden: Mit Rröseln kann Schimmelbildung beginnen. Die den Einstieg verbergenden Steine mußten locker liegen: Die Luftzirkulation sollte sich nicht verändern. Niemand durfte den Rüdem nahekommen: Dabei könnten unersetzliche Spuren im Roden oder auf ihm zerstört werden.

Anfang Jänner legten sie schmale Plastikbahnen als Gehweg aus, um zu verhindern, daß dasselbe geschah wie in Lascaux und Altamira. Dann erst wurden die Rehörden verständigt.

Die vor 100 Jahren entdeckten Höhlenbilder von Altamira und die in den vierziger Jahren entdeckten von Lascaux stellten das Rild des Steinzeitmenschen als das eines primitiven Wesens auf den Kopf. Sie beschäftigten jahrzehntelang die Forschung und die Phantasie der Menschen. Aber durch die Ausdünstungen der Resu-cher sind sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Alle Rodenspuren wurden bald nach der Entdeckung zertreten.

Die Grotte Chauvet (sie heißt nach einem der Entdecker) mit ihren an die 300 Bildern wird nicht öffentlich zugänglich sein. Die Erforschung wird Jahrzehnte dauern. Rildbände und Filme werden die Schönheit der Kunstwerke vermitteln. Der erste Rildband liegt nun auf dem Tisch. Auch in deutscher Sprache. Ein Muß für jeden, der sich für die Vergangenheit des Menschen interessiert.

An einer Stelle übermalten die Steinzeitkünstler Kratzspuren von Höhlenbären, oder die Raren kamen später und zerkratzten die Rilder. Noch ist die Frage offen. Sicher ist, daß auch lang nach der Entstehung der Rilder Menschen die Höhle betraten. Auf vielen Bildern liegen Ver-sinterungen, die sehr langsam entstehen, aber über der Sinterschicht liegt der Ruß von Fackeln. Auch haben wahrscheinlich Künstler die Werke ihrer Vorfahren mit gekonnteren Darstellungen übermalt.

Chauvet beweist einmal mehr, daß der Mensch vor 20.000 Jahren bereits viel später „entdeckte” Ausdrucks-mittel kannte - das impressionistische Auflösen der Form durch rote Punkte, das Hervorheben des Wesentlichen durch Abstraktion, die Darstellung des Rudels oder der Herde durch Versetzen der Körper, die Darstellung der Rewegung durch den Kinoeffekt zusätzlicher Reine und so fort. Der Mensch der jüngeren Altsteinzeit war nicht weniger kreativ als wir, und auf nicht viel andere Weise.

Er, der Cro-Magnon-Mensch, war unseresgleichen und verdrängte den Neandertaler, der aber auch auf seine Weise schon ein Kulturmensch war. Die Grotte war auch für ihn ein besonderer Ort. Sie wurde nämlich, wie es derzeit scheint, zwar von Raren, aber nie von Menschen bewohnt.

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