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BUNRAKU, NOH UND MUSICAL

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Wir haben Glück: Gerade gastiert eine junge, sehr begabte Truppe in Osaka, als wir, noch ganz unter dem Eindruck der großartigen, architektonisch wie akustisch gleich gelungenen Theater- und Konzerthalle (Festival Hall), das Bunraku-Theater besuchen. Niedrig und sehr breit ist die Bühne, mit mehreren Spielflächen hintereinander, zwischen denen die Laufgänge der Puppenspieler sind.Zur rechten Seite, auf einer Art Drehbühne, befinden sich die Rezitatoren und Shamisen-spieler vor einer Goldwand, hinter der die sie ablösenden Künstler postiert werden, so daß es nur'einer“Drehung um “l8o'“Gra.H Bedarf, um den Wechsel des die Bühnenvorgänge akustisch begleitenden künstlerischen Personals zu vollziehen. In kostbaren Kimonos sitzen sie auf den geschlossenen Fersen; der loruri (Rezitator) hat vor sich ein Pult mit dem Textbuch, das er mit schöner Geste vor Beginn an die Stirne hebt, ehe er sich vor dem Publikum verneigt. Die Shamisenspieler begleiten auswendig; mit ihren großen, weißen, dreieckigen Plektren schlagen sie die bildhaften, dreisaitigen, in Quarten gestimmten banjoartigen Instrumente mit den langen Griffbrettern und riesengroßen Saitenwirbeln in bemerkenswerter Präzision. An besonders dramatischen Stellen verstummt die Musik und nur die unglaublich modulationsfähige, aber stets kehlig denaturierte Stimme des Rezitators illustriert entscheidend das Bühnengeschehen. Die Puppen sind halb lebensgroß und werden jeweils von mehreren Spielern bedient. Der Meister, der auf sehr hohen Holzsandalen geht, trägt die Puppe und dirigiert die Kopfbewegungen, die auch ausdrucksvolle Veränderungen der Augen und Augenbrauen erlauben, mehrere, zumeist zwei Gehilfen bewegen mit Stangen und Schnüren die Gliedmaßen. Alle Spieler sind völlig in schwarze, über den Kopf reichende Tücher wie Mitglieder eines Clans gehüllt, um sie gegen die bunten Puppen zurücktreten zu lassen. Und nun vollzieht sich etwas Eigenartiges: In der ersten halben Stunde sieht man nur ein ständig wechselndes Gewirr von schwarz vermummten Gestalten agieren, die allmählich, entsprechend der zunehmenden Aufmerksamkeit, welche die außerordentlich schönen und eigenartigen Bewegungen der Puppen, deren Farben und Formen, in Anspruch nehmen, völlig verschwinden, so daß schon nach kurzer Zeit für den Zuseher nur noch die Puppen selbst und die Bühnendekorationen existent sind.

Die Stücke, die zum ältesten Theaterbestand Japans zählen, sind den Sagen entnommen und vielfach bewegt und blutrünstig. Die grandioseste Puppe ist die eines Despoten. Es ist hinreißend, mit welch individueller und ausdrucksvoller Grazie sein zahlreiches weibliches Gefolge von noch ganz jugendlichen Puppenspielern (Lehrlingen) hingebungsvoll in Aktion gehalten wurde. Das Publikum freilich besteht größtenteils aus älteren Leuten; in den Logen gibt es keine Stühle, man kniet schuhlos auf weichen Matten (Tatamis) und nur Rückenstützen bieten Erleichterung während der mehrstündigen Vorstellung. In der Pause sprechen wir mit den Künstlern, sympathischen Menschen mit ausdrucksvollen Gesichtern, die uns die Puppen der Reihe nach aus der Nähe zeigen, ihren Mechanismus demonstrieren und uns sogar Spielversuche anstellen lassen.

Am nächsten Bunraku steht entwicklungsgeschichtlich das N o h, die eindrucksvollste, obgleich am meisten statische und konstante Form des japanischen Theaters. Es war in alter Zeit sehr verbreitet, die vielen Noh-Bühnen, die nach einheitlichem Schema errichtet, in die Paläste eingebaut sind, bezeugen es. Die Bühne, die wir besuchen, steht nicht wie sonst im Freien, sondern, unter Beibehaltung ihres Grundrisses, in einem geschlossenen Theatergebäude, um von Wetter und Temperatur unabhängig zu sein. Durch einen mit Bambusstangen zu hebenden kostbaren Vorhang treten die Darsteller über einen langen, offenen Gang von links auf, ehe sie auf die quadratische, von vier Säulen flankierte eigentliche Spielfläche gelangen, an deren Rückwand Gehilfen, an deren rechten Seitenwand aber Chor und Musiker Platz nehmen. Die Gesichter sind maskiert, die Bewegungen streng gemessen. Die Füße verlassen beim Gehen nie den Boden, was sehr eigentümlich wirkt.

Das Wesen des Noh-Spiels ist eine sehr harmonische Einheit von Gesang, Tanz, Musik und dramatischer Darstellung, wobei die letztere die geringste Rolle spielt. Die szenischen Handlungen, die des Bühnenbildes gänzlich entraten, sind episch breit, alles ist symbolisch festgelegt, eine leichte Handbewegung vor die Augen bedeutet Trauer, ein Heben des Kopfes Freude. Mehr als ein halbes Jahrtausend alt, hat das Noh-Spiel einige Grundformen entwickelt, innerhalb derer auch die Gestalten typisiert sind. Äußerste Beschränkung der Mittel ist wesentlich, nur die im Stil des 15. Jahrhunderts gehaltenen Kostüme und Masken sind von reicher Vielfalt und großer Schönheit. Soweit historische Gestalten oder Ereignisse dem Spiel zugrunde liegen, sind sie auf das äußerste reduziert und mit ausschließlich ästhetischer Zielsetzung bloß angedeutet; Romantik wie Naturalismus sind in gleicher Weise diesem japanischen „Gesamtkunstwerk“ fremd. Für die Musik werden Flöten und Handtrommeln verwendet.

Der alte Text ist selbst Japanern schwer verständlich, viele lesen in Textbüchern mit. Das Publikum, das Einheimische und Fremde umfaßt, wirkt intelligent und folgt den auf lange Strecken hindurch wenig bewegten Vorgängen gleichwohl mit höchster Aufmerksamkeit. Zwischendurch werden komische Interludien (Kyogen) geboten, es wird viel gelacht, und auch Kinder wirken mit. Die Stimmgebung der Darsteller ist wie jene der Bunraku-Rezitatoren, denaturiert, aber technisch sehr gekonnt. Auch ohne Verständnis des Textes packen den Zu-6hef“d-er' .J5Wst“.'tthd die GeäcWössetrheit der Darbietungeh, die zweifellos die stärkste noch lebende Demonstration japänische'r'Bülinenkunst bedeuten.

Viel gelöster, fast möchte ich sagen romantischer, gibt sich das K a b u k i. Schon die Bühne mit Vorhang, Kulissen und Beleuchtungseffekten, ja mit moderner elektronischer Begleitmusik ist, abgesehen von ihrem ungewohnt stark in die Breite gezogenen Ausschnitt, vertrauter. Wie bei Bunraku und Noh spielen nur männliche Darsteller. Ich durfte einen der berühmtesten Frauendarsteller in seiner Garderobe besuchen, als er geschminkt, angekleidet und für seine nächste Rolle zurechtgemacht wurde, was sich nach strengem Zeremoniell mit einer ihm Kühlung zufächelnden Gehilfin und mehreren assistierenden Gehilfen vollzog. Die Pracht und Kostbarkeit der Kostüme sind großartig, der Ernst und die Würde der Schauspieler eindrucksvoll. Die Stücke sind aufgelockerter, menschlicher, dem Ausdruck des Seelischen in allen Formen von Freude, Leid, Schmerz, Verzweiflung wird breitester Raum gewährt. Die Leistungen sind, besonders bei den Frauendarstellern, bewunderungswürdig. Das Kabuki kann natürlich unmittelbarer ansprechen und starke Wirkungen entfalten; es ist glänzend besucht von alt und jung und bietet tiefe Einblicke in japanisches Leben von einst und jetzt.

Nicht allzusehr weicht das Innere des Theaters von jenem des Kabuki ab, in dem wir ein modernes japanisches Musical ansehen. Nur die Foyers sind üppiger und farbenprächtig nach Art großstädtischer Revuetheater ausgestattet. Große Seitenrampen und ein Laufsteg vor dem Orchester ermöglichen szenische Ent- ■ faltung. Man spielt eine Zauberkomödie: Die Liebe der Schneekönigin und deren Tochter zu irdischen männlichen Wesen mit mannigfachen Komplikationen gibt Anlaß für liebevoll ausgestattete Bühnenbilder, Licht- und Zaubereffekte aller Art. Man dächte an Raimund, erinnerten nicht die vielen Aufzüge und Tänze aus dem japanischen Volksleben daran, daß Wienerwald und Biedermeier fern sind. Nach der Pause folgt eine französische Revue, dezent, aber mit unerhörtem Aufgebot an Girls, Kostümen, Farben und Lichtern. Eine szenische Steigerung überbietet in rasantem Tempo die andere, Auge und Ohr kommen nicht zur Ruhe. Die technische Perfektion der Tänzerinnen steht in einigem Gegensatz zur Unpräzision; alle Mitwirkenden sind, wie auch beim Zauberspiel, weiblichen Geschlechts; die knabenhaften, dunkelstimmigen, burschikosen Männerdarstclle-rinnen lassen es uns vergessen. Die Musik mischt Elemente japanischer Volksmusik geschickt mit gemäßigtem Jazz und lärmt nie unangenehm. Alles ist hell, fröhlich, bunt und sauber, ein unbeschwertes, wenn auch leicht kitschiges Volksvergnügen.

Als wir das Theater verlassen, springen uns schon in der nächsten Umgebung die Reklamen der Kinos mit den neuesten amerikanischen Filmen an, und die Schaubilder einer Nacktrevue, die zeigen, daß Japan auch im Amüsiertheater ganz up to date ist.

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