Cycloiden und Accelerationen

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Das 19. Jahrhundert im Spiegel der Werktitel Johann Strauß'.

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Das 19. Jahrhundert im Spiegel der Werktitel Johann Strauß'.

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Die Göttin der Vernunft ist dort erschienen, wo ihr kein Mensch je zu begegnen erwartete: auf der Operettenbühne!" Das schrieb ein Kritiker 1898 über die letzte Operette von Johann Strauß, die zu seinen Lebzeiten noch uraufgeführt wurde. Er hatte sich mit dem Libretto nicht anfreunden können: Alfred Maria Winter wollte partout der französischen Revolution unterhaltsame Perspektiven abgewinnen.

Strauß war nicht böse, als das Werk schon nach 36 Vorstellungen abgesetzt wurde. Denn wie immer blieb ihm noch die Auswertung der Melodien für Konzert- und Ballsaal. Eine Ouvertüre und eine Quadrille waren auch diesmal drin. So beziehen sich viele Titel der Strauß'schen Tanzweisen auf seine Operetten. In dem neuen "Kommentierten Werkverzeichnis", das Franz Mailer kenntnisreich zusammengestellt hat, kann man jedem Walzer, jeder Polka, jedem Marsch nachgehen: wodurch er angeregt wurde, für welches Ereignis er bestimmt, welcher Person oder Vereinigung er gewidmet war. Das geht durch alle sozialen Stufen: Vom Armenball bis zum Hofball, von der Widmung an eine seiner drei Frauen bis zur ehrerbietigen Devotion an einen Kaiser oder König in der Hoffnung auf einen Orden oder eine andere Ehrung.

Aber auch die Nationen innerhalb und außerhalb des Habsburger-Reiches wurden bedacht: "Czechen-Polka", "Serben-Quadrille", "Slaven-Potpourri", "Hellenen Polka". Dazu "Nordsee-Bilder", "Märchen aus dem Orient" oder der "Covent Garden Festival Valse". Der ungarischen Nation galt der Marsch "Eljen a Magyar". Die vielen Anspielungen auf russische Orte, Bauern, Großfürsten und Prinzessinnen erklären sich durch die sommerlichen Gastspiele in Pawlowsk bei St. Petersburg. Zwischen den beiden Orten war eine Eisenbahn gebaut worden. Die Bahngesellschaft warb mit attraktiven Veranstaltungen um Reisende. Diese Kompositionen wurden aber meist in Wien neu betitelt. Franz Mailer hat eine genaue Konkordanz erarbeitet: Aus dem "Cagliostro-Marsch" wurde "Hoch Österreich!", aus dem "Huldigungs-Marsch" ein "Deutscher Krieger Marsch", aus dem "Tscherkessen-Marsch" ein "Egyptischer Marsch".

Die Eisenbahn, überhaupt die schnelle Entwicklung der Technik, brachte viele Anregungen, vor allem für die jährlichen Bälle der Technischen Hochschule, wo Strauß ja selbst einmal zu studieren begonnen hatte. Und kaum hatte man den Bau der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn nach München in Angriff genommen, komponierte Strauß den Walzer "Schwungräder". Auch die "Motor-Quadrille" und der "Accelerationen-Walzer" waren für die Techniker bestimmt.

Und die "Electro-magnetische Polka". Den Industriellen waren die Walzer "Dividenden" und "Concurrenzen" zugedacht, den Ärzten "Paroxysmen" und "Lebenswecker". Die Juristen bekamen zu ihren Gesetzbüchern "Novellen" und "Sentenzen". Auch der Walzer "Wahlstimmen" und die Polka francaise "Auf freiem Fuß" waren ihnen beziehungsvoll zugedacht. Regelmäßig musizierte Strauß auf dem Concordia-Ball. Das war die Vereinigung der Schriftsteller und Journalisten, die sich allerdings meist mit Neuauflagen bereits bewährter Musiknummern mit aktualisiertem Titel begnügen mussten. Da gab es "Morgenblätter" und "Leitartikel", den "Feuilleton-Walzer", die Polkas "Ball-Reporter" und "Frisch heran". Welche Bewandtnis es mit diesem Titel hat, weiß auch Mailer nicht. Die Melodie stammt aus der Operette "Das Spitzentuch der Königin". Mailer weiß aber, dass es Strauß oft leichter fiel, ein neues Werk zu komponieren, als einen Titel dafür zu finden. Aber da werden andere geholfen haben. Er war ja sowieso ein Betrieb mit vielen Zulieferern.

Manchmal ging es zu weit. Wenn zum Beispiel die Techniker einen "Cycloiden-Walzer" wünschten, musste Strauß ein Lexikon befragen, um zu erfahren, dass das Cycloid eine Linie ist, "die beim Abrollen eines Kreises auf einer geraden Linie entsteht". Strauß dürfte nicht lange gegrübelt haben. Übrigens auch der Künstler nicht, der das Titelblatt für die Druckausgabe entwarf, als Allegorie auf den technischen Fortschritt mit Dampfschiff, Leuchtturm und Fabrikschornstein. Mit den Titelblättern konnte es überhaupt Missverständnisse geben, weil in der Eile wohl kaum lange Vorgespräche möglich waren. Die "Lucifer-Polka" hatte sich Strauß gewiss recht teuflisch gedacht. Der Zeichner dachte aber an den "Lichtbringer", der auch als Morgen- und Abendstern auftritt.

Ja, es spiegelt sich eine ganze Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts in den weit über 500 Werken von Johann Strauß. Franz Mailer, Präsident der Wiener Strauß-Gesellschaft und unermüdlicher Forscher, hat mit seinem Buch einen Einblick geben können. Er verfasst übrigens seit Jahren die Kommentare zu den Werken, die im Neujahrs-Konzert der Wiener Philharmoniker gespielt werden. Das jüngste Neujahrskonzert war der definitive Abschluss des Gedenkjahres mit besonders vielen Grüßen an die Nationen Europas : "Lagunen-Walzer" für Italien, "Gruß an Prag", "Albion Polka"...

Johann Strauss - Kommentiertes Werkverzeichnis Von Franz Mailer, Verlag Pichler, Wien 2000, 376 Seiten, geb., öS 420,-/e 30,52

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