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Das Chaos der Seele auf der Leinwand

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Bei seinen Reisen durch Deutschland, die Schweiz und Österreich besuchte der Aufklärer Friedrich Nicolai im späten 18. Jahrhundert den Bildhauer Franz Xaver Messerschmidt in Preßburg. Messerschmidt hatte berühmte Porträtskulpturen der Kaiserin Maria Theresia, ihres Gatten, ihres Sohnes Joseph II. und vieler anderer wichtiger Persönlichkeiten geschaffen. Eine Professur an der Wiener Kunstakademie war ihm zugesagt. Als er sie wegen unangepaßten, eigenbrötlerischen Verhaltens nicht bekam, verließ er Wien im Groll, ging zu seinem Bruder nach Preßburg und schuf dort neben „völlig normalen” Werken 69 Charakterköpfe in Bleiguß. Wer einige davon je im Wiener Barockmuseum im Unteren Belvedere gesehen hat, versteht Friedrich Nicolai, dessen Ziel es war, „seltsame Menschen weder geradezu zu bewundern noch zu verachten, sondern so viel mir möglich ist, zu untersuchen, auf welche Art wohl solche Leute auf ihre Lieblingsideen gekommen seyn möchten”.

Nicolai war verstört von den Köpfen, die ihn in ihrer Verzerrung („Der an Verstopfung Leidende”, „Der Weinerliche”, „Der Bekümmerte”, „Ein Erhängter”) zutiefst befremdeten. Messerschmidt war verrückt, doch die Charakterköpfe sind Wahngebilde und Kunstwerke zugleich. Er ist der erste Künstler, „dessen Werk in einem ursächlichen Zusammenhang zu seiner psychischen Krankheit gesehen wird”, wie Peter Gorsen im Katalog zur Ausstellung „Kunst und Wahn” im Kunstforum der Bank Austria in Wien schreibt.

Irresein hat eine beunruhigende und gleichzeitig Neugier weckende Wirkung auf die Nicht-Betroffenen. Im Mittelalter galten Unglaube, Unzucht und Besessenheit als Ursachen für den Wahnsinn. Erst der große Arzt Paracelsus erkannte im 16. Jahrhundert, daß nicht Gott, die Heiligen oder Dämonen geistige Krankheiten schicken, sondern sie „erwachsen aus dem Menschen im Zusammenhang mit der Welt, in die er gestellt ist”.

Künstler haben schon früh Dämonenbesessene, Teufelsaustreibungen, Veitstänze dargestellt. Mit Irrenszenen beendete der Engländer William Hogarth im 18. Jahrhundert seinen erschreckenden Zyklus „Die Karriere eines Wüstlings - The Rake's Pro-gress”: Der ehedem keiner Zerstreuung abgeneigte Wüstling wird im Irrenhaus selbst begafft. Die Herrscher Europas hielten sich Narren zur Belustigung und ließen sie porträtieren. Große Maler interessierten sich für Verrückte: Der Schweizer Füssli malte das deprimierte Schweigen in Gestalt einer tief vornüber gebeugten Gestalt; der Engländer Blake zeigte den größenwahnsinnigen biblischen König Nebukadnezar, der am Ende seines Lebens wie ein Ochse Gras frißt. Der Norweger Edvard Münch malte seine tief depressive Schwester, der Holländer van Gogh sich selbst und Mitpatienten in einer Anstalt.

Egon Schiele studierte die Gestik von Wahnsinnigen auf Fotografien und holte sich hier Anregungen für seine Ästhetik des Häßlichen.

Eine neue Wendung des Interesses an Kunst und Wahn ergab sich durch die Arbeit des Kunsthistorikers und Mediziners Hans Prinzhorn. Ab 1919 sammelte er Werke, die Geisteskranke geschaffen hatten. So entstand an der Heidelberger Klinik die bis heute weltweit bekannteste Dokumentation psychopathologischer Kunst: 5.000 Werke. Die Nationalsozialisten benützten die Sammlung, um hämisch gegen alles Moderne ins Feld zu ziehen. In der berüchtigten Münchner Ausstellung „Entartete Kunst”

(1937) wurden mehrere Patientenwerke modernen Kunstwerken gegenübergestellt, um zu zeigen, daß moderne Kunst mehr mit Verrücktheit als mit Kunst zu tun habe.

Viele moderne Künstler wie Dali, Max Ernst, Picasso, Arnulf Rainer erhielten entscheidende Anregungen von den Hervorbringungen Geisteskranker, die sie in die Nähe der primitiven Kunst rückten. Manche Psychiatriepatienten wie der Schweizer Adolf Wölfli wurden weltweit bekannte und anerkannte Maler. Der österreichische Psychiater Leo Navra-til folgte übrigens in der Gugginger Klinik der Linie von Hans Prinzhorn.

Was macht die Anziehungskraft von Bildern Geisteskranker wohl aus? Da blicken Menschen in den Abgrund ihrer selbst und holen aus ihren Tiefen Obszönes und Erschreckendes, als wohl am häufigsten wiederkehrendes Motiv (wenn sie gegenständlich malen) den menschlichen Kopf, oft abgetrennt vom Leib. Das Chaos oder die Erstarrung der Seele finden ungefiltert den Weg auf die Leinwand.

Heute, da es Mode ist, Grenzen in allen Bereichen weiter und weiter hinauszuschieben, muß gefragt werden: Wenn der Irrenkunst so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, mit welchen Maßstäben wird ihr Wert gemessen? Die Leiterin der Prinzhorn-Sammlung in Heidelberg, Inge Jadi, stellt sich im Katalog dieser Frage: „Ist ein Patient, der gestaltet, Künstler oder nicht? Es erweist sich, daß bei kritischer Bewertung wie auch im üblichen Kunstgetriebe nur wenige übrig bleiben. Schizophrenie allein macht keine Künstler.”

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