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„Das Dach der Weit"

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Seit im Mai 1914 Oberst Younghus- band sich mit seinem kleinen britischindischen Expeditionskorps gegen die mittelalterlich ausgerüsteten Krieger, die ihm als Verteidiger Tibets entgegentraten, den Eintritt ins das „verbotene Land“ erkämpft hatte, ist der über das Reich des Dalai Lama gebreitete romantische Schleier wiederholt gehoben worden, ohne daß er aber ganz verschwand. Auch die Briten schonten ihn und machten nur vorsichtig Gebrauch von den Stations- und Besatzungsrechten, die ihnen in den von Younghusband geführten Verhandlungen eingeräumt worden waren; das Fort, das sie in Gsangtse, auf halbem Wege von der Grenze bis zur Hauptstadt Lhassa, errichtet hatten, verwandelte sich bald in den Sitz einer britisch-indischen Handelsagentur mit britischem Postamt, Fernsprechverbindung mit Kalkutta, Lazarett und netten Beamtenwohnungen, indes die Obhut über den langen vereinbarten Handelsweg mehr symbolisch als effektiv eine Kompanie britisch-indischer Soldaten besorgte; dem Augenschein nach war für die britische Kalkulation die tibetische Schafwolle, der vornehmste Ausfuhrartikel des Landes, wichtiger als die politische Ausschau, die vom „Dache der Welt" aus über die zentralasiatische Umwelt der Beobachtungsposten in der gemütlichen Villa in Gsangtse zu halten pflegte. Für das Draußenbleiben un- erbetener Besucher sorgte jetzt außer der tibetischen Grenzwache auch der liebenswürdige britische Resident in Gangtok, der Hauptstadt von Sikkim, dieses indischen Himalajafürstentums, das von dem Anmarschweg zu dem Südtor Tibets, dem Nathu-La-Paß, durchkreuzt wird.

Die Tibetliteratur erfährt jetzt eine außerordentlich aktuelle und aufschlußreiche Ergänzung, in mehrfacher Hinsicht auch eine Korrektur durch ein von dem amerikanischen Verlag Rinehart & Co., New York, herausgebrachtes Buch „Roof of the World" eines Franzosen, Ancoury de Riencourt, der das Bild Tibets aus dem Dämmerlicht halbenträtselter Verborgenheit, buddhistischer Mystik und Legende in das grelle Weltgeschehen hineinstellt, das sich heute niederreißend und unabsehbar im Herzen Asiens ergießt. Comte de Riencourt trat gut vorbereitet an seine Aufgabe. Er hatte an einer der ersten Pflegestätten orientalischer Wissenschaft, der Universität in Algier, studiert, in weiten Reisen durch Afrika die Welt des Islams kennen- und die Spannweite der

1 In deutscher Sprache jetzt erschienen im Verlag Eberhard Brockhaus, Wiesbaden: „Tibet im Wandel Asiens", 285 Seiten mit 30 Tafelbildern und 2 Karten.

vielfältigen religiösen Probleme des asiatischen Ostens abschätzen gelernt. Als er Ende Mai 1947 in 4200 m Höhe mit seiner kleinen Tragtierkolonne den Scheitel des Nathu-La-Passes erreichte und die gigantische Bergwelt übersah, die den Weg zu seinem Reiseziel Lhassa umlagerte, da erwartete er ein großes Erlebnis, aber noch konnte er nicht die Bedeutung des historischen Dramas ermessen, das schon im nächsten Jahre die mit Riesenschnelle sich vollziehende Eroberung des einstigen Mandschureiches durch den chinesischen Kommunismus und die Liquidation der Stellungen der britischen Weltmacht in Indien einleitete. Noch fand er ein friedliches Lhassa, die breite in Fruchtbarkeit prangende Talebene, hoch an der Berglehne, überragt vom Potala, dem burgartigen Riesenpalast des Dalai Lama, und Sitz der Regierung, entzückt genoß er die „himmlischen Gefilde", Äcker und Haine, die sich an beiden Ufern des Kjiflusses hinzogen, indes sich am Horizont ein Hintergrund von schneebedeckten Gipfeln abhob. „Wie eine Kette aus glitzernden Edelsteinen“, schreibt er, „zieht sich im strahlenden Sonnenschein eine erstaunliche Zahl von Tempeln mit goldenen Dächern an den Berghängen 'hin.“ Auf dem Weg zur Stadt begegnet er Karawanen von Kaufleuten und Edelherren in seidenen Gewändern, mit einem Gefolge von singenden Lautenspielern reisend, und rotgewandeten Lamas, die ihre Gebetsmühlen treiben. Anders als Alexandra David-Neel, die drei Jahrzehnte zuvor im Pilgergewand, begleitet von ihrem Adoptivsohn, einem jungen Lama, in das Innere Tibets auf vielen abenteuerlichen Wanderschaften vordrang, aus ihren Erlebnissen und Erfahrungen die Tibetliteratur mit einer Reihe von Werken bereicherte, sieht Riencourt während seines anderhalbjährigen Aufenthaltes in Tibet das Volk und die gesellschaftliche und politische Struktur des Landes. Die Amerikanerin, selbst ganz in die buddhistische Mystik eingesponnen, schilderte Tibet als düstere Bergheimat eines von Dämonenglauben unablässig geplagten Volkes, eines Landes der Asketen, der Räuber und Gespenster. Riencourt findet in den Tibetern ein fröhliches, sangeslustiges und musikkundiges Volk, dessen Masse eine Bauernschaft von primitiver Lebensart ausmacht, die auf dem großen Grundeigentum, eines feudalen Landadels und den Latifundien der klösterlichen Lamasereien in einer Art Hörigenverhältnis lebt, anscheinend ähnlich dem Rechtsstand der Kmeten gegenüber dem Aga nach mohammedanischem Recht. 1948, da Riencourt noch in Tibet weilte, ist das Land noch der typische Staat der Autokratie, der mit diktatorischer Macht von dem Dalai Lama geführt würde, wenn dieser, die „vier-

zehnte Wiedergeburt des Buddha , schon volljährig wäre; da er aber noch zu jung ist, wird er von einem Regenten mit geringeren Rechten vertreten. Die Spitze der Verwaltung — der weltlichen wie der lamaistischen Angelegenheiten bildeten zwei viergliedrige Senate, die neben sich — offenbar als beratende Körperschaft — eine große Beamtenvertretung hatten, die Riencourt als Parlament bezeichnet. Während die Regierungsgewalt des weltlichen Ministersenats sich auf das staatliche Territorium Tibets mit seinen drei bis vier Millionen Bewohnern erstreckt, umfaßt die Oberhoheit des lamaistischen Regierungssenats auch die Lamasereien des Auslandes und ihren geistigen Umkreis, überspannte also im Osten die riesigen westlichen Provinzen Chinas — in der Provinz Yünnan hatte sich um die Lamaserei Muli ein ganzer Staat gebildet —, im Süden beanspruchte sie die lamaistische Autorität über die buddhistischen, an Tibet angrenzenden indischen Fürstentümer und im Westen stieß die geistliche Macht des Potala bis nach Kaschmir vor. Riencourt beziffert die Gesamtzahl der damals unter der Autorität des Dalai Lama und seines Außenministeriums stehenden Lamase-

reien, dieser vielfach befestigten Stützpunkte geistlicher Herrschergewalt, mit 5000 und die Zahl ihrer Insassen mit 600.000. Diese Macht des Dalai Lama, die sich inmitten der höchsten Gebirge der Welt wie in einer Festung verschanzt hatte, im Süden geschützt war auch durch die Dschungelwildnisse der indischen Grenzgebiete, im Nordosten durch die todesschwangeren ungeheuren Sümpfe der Provinz Amdo, sich dienstbar zu machen, war die mit Diplomatie und Waffengewalt verfolgte Politik der Man- dschukaiser des alten China gewesen, und nach ihnen ebenso die der Führer der jungen chinesischen Republik seit 1911 bis herauf zu Tschan-Kai-schek. Die Schutzherrschaft, die alle diese Machthaber über Tibet behaupteten, war zu Zeiten von höchst zweifelhafter Existenz. Ihre jüngsten Nachfolger, die Häupter des chinesischen Kommunismus, unter dessen Schlägen in den ersten neun Monaten des Jahres 1949 das nationalistische

China zusammenbrach, ließen keinen Zweifel an dem Ernst ihres Anspruches auf Tibet im Namen der Unteilbarkeit chinesischen Territoriums aufkommen; sie drohten den „britischen und amerikanischen Imperialisten und deren Strohmann, der indischen Regierung Nehru", „mit der gepanzerten Faust der großen Befreiungsarmee des chinesischen Volkes“, an der sich jene „den Schädel einrennen würden, wollten sie es wagen, den Tibetern zu helfen".

Diese grimmige Sprache bezeichnete deutlich die Situation, wie sie bestand, kurz nachdem Riencourt beim Nahen des kommunistischen Ungewitters Tibet verlassen hatte. Es war niemand da, der den Staat des Dalai Lama vor Vergewaltigung hätte schützen können. Der Peipinger Rundfunk der Kommunisten hatte es leicht, große Worte zu gebrauchen. Das Tibet, das zwischen einem kommunistischen China und dem Reiche der geistigen Erben Gandhis liegt, besitzt in Indien, über dessen Grenzen der junge Dalai Lama geflüchtet ist, einen interessierten Freund, dem nicht wohl ist bei dem Gedanken, daß nun von der Mauer des Himalaja ein Zyklop, ein Wesen mit unberechenbaren Plänen, herabschauen wird, aber diesem Riesen zu begegnen, ist Indien auf lange Zeit nicht gerüstet. Indische Diplomatie wird sich bemühen, ihn nicht zu reizen.

Was nun mit der weltlichen und geistigen Herrschaft des Dalai Lama? Riencourt zitiert eine Stelle aus dem politischen Testament des vorletzten, 1933 gestorbenen tibetischen Selbstherrschers, der „dreizehnten Wiedergeburt Buddhas", eines Dokuments, das Zeugnis gibt, wieviel Weltkenntnis in dem Potala von Lhassa wohnte und wie hellhörig die aus Sibirien herüberdringenden Schallwellen aufgenommen wurden:

„Es kann sich ereignen, daß hier, mitten in Tibet, die Religion und die weltliche Regierung sowohl von innen als auch von außen her angegriffen werden. Wenn wir unser Land nicht verteidigen können, wird es dann geschehen, daß der Dalai Lama und der Pantschen Lama, der Vater und der Sohn, die ruhmreichen Wiedergeburten, niedergeworfen und ohne Namen gelassen werden. Was die Klöster betrifft, so werden ihre Ländereien und andere Besitztümer zerstört werden Die geistlichen und weltlichen Staatsbeamten werden es erleben, daß man ihr Land und sonstiges Vermögen einzieht und sie selbst ihren Feinden dienen oder als Bettler durch das Land ziehen müssen.“

Diese Vorausschau- schrieb ein wirklicher Staatsmann nieder. Inwieweit das alte Tibet, wie es noch Riencourt vorfand, wirklich in den letzten drei Jahren vom chinesischen Kommunismus vernichtet wurde, sich dieser die wirkliche Herrschaft über das unwegsame, durch seine Hochgebirge und sein Klima verteidigte

Land erobert hat, ist aus dem unkontrollierbaren Propagandalärm noch nicht feststellbar.

Was mag von dem alten buddhistischen Lama-Staat, was noch übrig sein von der geistigen Herrschaft des Dalai Lama, die noch vor kurzem bis in ungeheure Weiten reichte? Liegen diese mit goldenen Dächern bedeckten, mit uralten Reichtümern erfüllten Tempel in Ruinen, sind verbrannt die Holztafeln der Büchereien in den Lamasereien? Tibet trug den Titel: „Das verschlossene Land". Seit fünfzig Jahren war es nicht so verschlossen wie jetzt.

Aus Bombay an die „Furche" gelangte Nachrichten sprechen von gewaltigen Straßenbauten, die, von Lhassa gegen Westen führend, auf die Grenze von Nepal zielen und gegen diesen Himalajastaat gerichtete militärische Pläne der jetzigen Okkupanten anzudeuten scheinen.

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