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Das Geheimnis der Wirklichkeit

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Cassirer soll bei einer Jurysitzung der Berliner „Secession“ vor einem Bild Max Pechsteins die Frage: „1st das noch Impressionismus?“ beantwortet haben: „Nein, Expressionismus.“ Es gibt aber noch andere Versionen, wie der Stilbegriff Expressionismus entstanden ist. Der Name wurde schon 1901 von J. A. Hervė geprägt. Das. was wir heute Expressionismus bezeichnen, begann in Deutschland 1904/05, als sich in Dresden einige gleichgesinnte Architėktur- studenten Ernst Ludwig .Ktrchnetį’Erich TIeckeL KaiL. Schmidt-Rottluff) zur „Brücke“ Zusammenschlüssen. Vorläufer waren der Niederländer van Gogh und der Norweger Munch, gleichzeitig und unabhängig begann in Wien Gerstl zu malen. Um 1910, als Kandinsky zur Abstraktion fand, war der Expressionismus schon eine ausgeprägte Sache, Nolde, Pechstein, Otto Mueller, Kokoschka gehörten dazu. Dann kam das große „expressionistische Jahrzehnt", Herwarth Waldens „Sturm“ begann zu erscheinen, daneben kam in Berlin noch die „Aktion" heraus, Albert Paris Gütersloh veröffentlichte 1911 den ersten expressionistischen Roman, Gottfried Benns Gedichte „Morgue" wurden 1912 von Alfred Richard Meyer publiziert.

Was war der Expressionismus? Eine Woge ungestalteten Gefühls, der unbedingte Wille, dem eigenen Innern um jeden Preis Ausdruck zu verschaffen? Der Expressionismus wandte sich, aufgerufen von Metaphysischem, Transzendentem, der Wirklichkeit zu. Es ging ihm um die äußere Wirklichkeit unserer Welt und die innere Wirklichkeit unseres Erlebens. Diese wollte er abgekürzt, verdichtet, zusammengeballt wiedergeben — als Zeichen, als Emblem, als Hieroglyphe. „Die Hieroglyphe", sagte Kirchner, „ist Ausdruckszeichen für erlebte, bis zu ihrem Energiequellpunkt durchschaute Wirklichkeit." Und Max Beckmann sagte: „Es klingt vielleicht paradox, aber es ist tatsächlich die Wirklichkeit, die das Geheimnis unseres Daseins bildet.“ In dieser Wirklichkeitsnahe, diesem sich über formale Probleme souverän hinwegsetzenden Ausdrucksstreben, diesem Drang nach Erkenntnis, ist der Expressionismus eine zutiefst deutsche Sache, der deutsche Beitrag zur Kunst unseres Jahrhunderts.

Daneben darf aber die Seitenentwicklung des österreichischen Expressionismus nicht übersehen werden. Im wesentlichen geht es ihm um dieselben Grundfragen wie dem deutschen Expressionismus. Aber er ist stiller, harmonischer als der deutsche, das menschliche Gesicht wird weniger verzerrt, seine Bilder sind weniger aufrührerisch und werden von keinen Manifesten begleitet. Gerstl stirbt früh; Kokoschka geht bald nach Berlin und findet im „Sturm"-Kreis Aufnahme. Bleiben bei uns nur Egon Schiele und Albert Paris Gütersloh als führende Persönlichkeiten des Expressionismus. Doch auch Schiele ist kein langes Leben beschieden und Gütersloh, eher ein Mann der Stilisierung und Nuance, schlägt andere Wege ein.

Nun wird in der Salzburger Residenz- Galerie während des ganzen Sommers, von Juni bis September, eine große Ausstellung „Expressionismus — Malerei in Oesterreich, Deutsch] md und der Schweiz“ gezeigt. Es ist das Verdienst dieser von

Ernst Köller und Edmund Biechinger gestalteten Schau, einmal dem österreichischen Expressionismus neben dem deutschen den ihm gebührenden Platz gegeben zu haben: zu oft wurde er bisher übersehen. (Der schweizerische Anteil erweist sich auch in dieser Ausstellung als gering. Neben Hodler, der nicht in allem als Vorläufer des Expressionismus zu werten ist, hätte man wohl noch Cuno Amiet berücksichtigen können.)

'Es, ist überhaupt nicht alles Expressionismus, was hier gezeigt wird. Da sind zum Beispiel einige sehr reizvolle kleinformatige Werke von Klee, Feininger und Kandinsky, die in den Kreis des „Blauen Reiters", der späteren „Blauen Vier" und des Bauhauses passen, zum Expressionismus aber nur dann gerechnet werden dürfen, wenn man ihn, wie das zuerst Walden tat (1911), als Sammelbegriff für alle modernen Bestrebungen nach dem Impressionismus auffaßt, mit Einschluß von Kubismus und Abstraktion. Doch auch dann bleibt eine Reihe von Werken übrig, wie etwa die von Liebermann und Slevogt, die man nur vorexpressionistisch nennen kann.

Den stärksten Eindruck hinterließen die Bilder von Max Beckmann. In ihrer harten, bewußt und kompromißlos aufgebauten Struktur weisen sie zwar schon über den Expressionismus hinaus, sind aber durchaus noch auf seinem Boden gewachsen. Auch von Nolde und Rohlfs sind einige sehr schöne Werke zu sehen.

Hervorragend bestehen die vertretenen Oester-

reicher neben den Deutschen: Schiele, Gerstl, Thöny, auch Kolig (ein Expressionist?) von den Toten, von den Lebenden vor allem Herbert B o e c k 1. Mit seinem „Steinbruch mit roten Schatten" (1920) und seinem „Erzberg“ (1942) ist er ausgezeichnet vertreten. Kokoschka dagegen ist nur mit dem „Bildnis Else Kupfer" aus seiner Glanzzeit wirklich präsent. Die späteren Stadtlandschaften schmecken leicht nach limonadigem Zuckerwasser-Expressionismus.

Die Ausstellung ist, wenn auch keine lückenlose Dokumentation, so doch immerhin eine sehenswerte und diskussionswürdige Sache.

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