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Das heilsame Gift Curare

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Es ist nicht verwunderlich, daß Naturvölker durch Instinkt und feine Beobachtung gute Kenntnisse von den wirksamen Kräften ihrer Umwelt haben. Seit urdenklichen Zeiten verwenden die Indianerstämme am Amazonas und Orinoko ein aus verschiedenen Pflanzen gewonnenes Pfeilgift, das eine ganz eigenartige Wirkung besitzt: wenige Augenblicke, nachdem die Substanz vielleicht nur durch eine ganz kleine Wunde in die Blutbahn eingedrungen ist, bricht das Tier erschlafft zusammen und verendet kurze Zeit darauf. Eine prompt einsetzende Lähmung macht das Wild zur leichten Beute, ohne daß das Fleisch für den menschlichen Genuß unbrauchbar geworden ist. Vielfach Stoff von Abenteuerromanen, aber auch in seriösen Schriften erwähnt, verdient diese Sustanz auch unsere Beachtung, da es nicht nur heute noch von den Indianern Südamerikas als Pfeilgift Verwendung findet, sondern auch in der modernen Medizin täglich in Gebrauch steht.

Sir Walter Raleigh brachte anläßlich seiner Entdeckungsfahrt von Britisch-Guyana im Jahre 1595 Curare nach Europa und berichtete recht anschaulich von seiner lähmenden Eigenschaft auf die Gliedmaßen und auch auf die Atemmuskulatur bei erhaltener Sensibilität und nicht irgendwie eingeschränktem Bewußtsein. Alexander v. Humboldt lernte es ebenfalls bei seinen Forschungsreisen 1821 kennen, beschrieb genau die Zubereitung des Alkaloids aus Loganiaceen- und Menispermiaceenarten Brasiliens und überreichte Claude Bernard eine Probe als Geschenk. Die Tierversuche des berühmten Physiologen, die er vor zirka 100 Jahren anstellte, beleuchteten genauer die Wirkungsweise dieser Droge.

Diese besteht nun darin, daß die Erregung vom Nerv auf die quergestreifte (= der Willkür unterworfene) Muskulatur nicht übertragen werden kann. Der Nerv selbst hat seine Leitfähigkeit bewahrt. Zwischen Nerv und Muskel ist aber noch ein kleines Organ eingeschaltet, die sogenannte motorische Endplatte, welche bei Erregung des Nerven auf biochemischem . Weg die Muskelfaser zur Kontraktion bringt. Kommt irgendein Impuls über den;,Nerv zur motorischen Endplatte, so wird hier Acetylcholin frei und dieses bewirkt eine Kontraktion des Muskels, Es ist auch bekannt, daß alle diese biochemischen Prozesse in Bruchteilen von Sekunden ablaufen und überall im Organismus ein wirksames Prinzip, die sogenannte Cholinesterase, das entstandene Acetylcholin sofort wieder zerstört, um den Muskel für neue Reize wieder empfänglich zu machen.

Die Curaredroge wird nun auf dem Blutweg ins Gewebe und auch zur Muskulatur gebracht und verhindert nun hier das chemische Geschehen zwischen motorischer Endplatte und Muskel, so daß eine Lähmung eintritt, während Gefühlsempfinden und klares Bewußtsein erhalten bleiben. Man kann aber in kurzer Zeit die Curarewirkung zum Verschwinden bringen, wenn man zum Beispiel Prostigmin dem Gewebe zuführt, das die oben erwähnte Cholinesterase hemmt und somit die Zerstörung des Acetylcholins verhindert. Man kann — mehr als hypothetisch — dieses Spiel zwischen motorischer Endplatte und Muskeln auf chemischen Boden verlegen, dem Acetylcholin die Hauptrolle und der Cholinesterase die Rolle der Gegenspielerin verleihen. Es ist anzunehmen, daß das Curare dieses Spiel im Gleichgewicht stört und das Acetylcholin nicht zur Wirkung kommen läßt (und sich demzufolge der Muskel nicht kontrahiert), bis es wieder auf natürlichem Weg nach zirka einer halben Stunde aus dem Gewebe entfernt wird oder das zugeführte Prostigmin die Balance wieder herstellt, indem die inzwischen weiterlaufende Zerstörung des Acetylcholins verhindert wird. Auf den Herzmuskel und auf die glatte Muskulatur (die nicht der Willkür unterworfenen, zum Beispiel des Darmes) hat das Curare keine direkte Wirkung; auch hat die perorale Aufnahme keinerlei Folgen.

Heute stehen dem Arzt gereinigte Curarepräparate (Antocostrin, Tubocurin) zur Verfügung, die je nach Dosierung verschiedene Muskelgruppen zur Erschlaffung bringen: Zuerst werden die Augenmuskeln ergriffen, der Blick wird starr, die Augenlider sinken herab; dann kann der Kopf nicht mehr gehoben werden, es folgt bald die Lähmung der Bauchmuskulatur und der Gliedmaßen. Ein allgemeines Gefühl der Schwere stellt sich ein; zum Schluß, das heißt bei weiterer Verabreichung, kommt es auch zur Ruhigstellung des Zwerchfells und der Atemmuskulatur, letzten Endes zur Erstickung. Im jüngsten Zweig der Medizin, in der Anästhesiologie — der Narkosearzt ist als Spezialist auf den Plan getreten — macht man von diesen Curarewirkungen gerne Gebrauch. Bei vielen chirurgischen Eingriffen, zum Beispiel Bauchoperationen, ist es sehr vorteilhaft, die Muskulatur durch solche Drogen zur Erschlaffung zu bringen. Früher mußte man deshalb Patienten sehr tief narkotisieren, was bei stundenlangen Eingriffen nicht immer gleichgültig war, während heute eine oberflächliche und zugleich für den Kranken viel schonendere Narkose bei gleichzeitiger Gabe von Curare für die Operation genügt. Ebenso wird für den Operateur die komplizierte und oft technisch recht schwierige Arbeit bei einer ganz schlaffen Muskulatur wesentlich erleichtert. Es bleibt auch zu erwähnen, daß in der Lungenchirurgie und bei Operationen am Heizen sogar das Zwerchfell ruhiggestellt werden kann, um die gelegentlich subtilen Eingriffe zu ermöglichen, während der Patient in dieser Zeit aktiv mit Apparaten beatmet wird. Da diese Drogen nur in den Händen eigens geschulter Ärzte liegen und außerdem wirksame Maßnahmen und Gegenmittel (Prostigmin) momentan angewendet werden können, besteht in keiner Weise die Gefahr, daß durch Überdosierung eine eventuell tödliche Atemlähmung entsteht.

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