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Das seltsame Dorf

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Die seltsame Siedlung, die ich als das Weihnachtsdorf bezeichnen möchte, liegt im Herzen von Jerusalem, im Schatten der Kirche des Heiligen Grabes und doch auf einem ihrer flachen Dächer. Vom Basar der Gewürzhändler führt eine Rampe zum Palast des koptischen Patriarchen empor. Der niedere Hügel, den sie erklimmt, ist künstlich. Er besteht aus den ungeheuren Gewölben, die einst Konstantins Grabeskirche und vorher den Venustempel des heidnischen Jerusalems, über das Dächermeer der Stadt hoben.

Die Rampe endet als Sackgasse mit drei Toren. Die Mittelpforte führt in die Vorhalle des Patriarchen, die ein wohlerhaltener Rest des Kreuzfahrerklosters der Augustiner Domherren des Heiligen Grabes ist. Elegante Rippengewöibe ruhen auf Konsolen, die für Syriens Gotik typisch sind: Bündelpfeiler, welche der sdiwere, lokale Quaderbau entbehrlich macht, verschwinden rechtwinkelig abgebogen in der Mauer, sind zu Konsolen „degeneriert“.

Wer Glück hat, findet in dieser Halle ein weißbärtiges Männchen mit staubigem Tarbusch, das dem Sultan Abdul Hamid lächerlich ähnlich sieht. Dieser Portier besitzt den Schlüssel der berühmten Zisterne der Kaiserin Helena, obwohl er es zunächst leugnen wird. Jedenfalls widerrät er dem Besuch der dunklen, feuchten, gefährlichen Unterwelt. Er mag für einen Schilling schließlich das rechte Tor öffnen, wird aber den Vorwitzigen keineswegs begleiteh.

Dort führt ein enger, gewundener Gang mit hohen, abgetretenen Steinstufen in den Stadtfelsen hinab. Er endet in einer gigantischen Höhle, hoch über dem Ufer eines unterirdischen Sees. Von einer Terrasse reicht eine monumentale Freitreppe zum Wasserspiegel, der sich geheimnisvoll im Dunkel verliert. Dieses riesige Wasserbecken heißt nach der Mutter Konstantins und ist jedenfalls eines der berühmten Reservoirs seiner Basilika. Es ist aber bestimmt viel älter und einer der größten jener unter-irdisdien Seen Jerusalems, die keineswegs völlig erforscht und vermessen sind. Man muß einmal hinabgestiegen sein, um die Geheimnisse zu ahnen, die der Boden Jerusalems in unzähligen Schichten von Leben und Zerstörung birgt.

Ist man wieder oben, ohne sich den Kopf im Stollen ernstlich beschädigt zu haben, dann geht es durch das dritte Tor geradewegs ins „Weihnachtsdorf“. Es gibt wirklich im Herzen Jerusalems ein Dorf, allerdings ein Dorf auf einem Dach, das jeden Monat Weihnacht feiert, zwar nicht mit Braten und Lichterbaum, aber mit viel-stündigen Andachtsübungen und Prozessionen.

Man betritt einen großen gepflasterten Hof, dessen Zentrum ein kleiner, uralt wirkender Kuppelbau einnimmt. Er hat viele Fenster, aber keine Türe und die braucht er auch nicht. Dieser Pavillon ist nämlich nichts anderes als die Kuppel der Helena-Kapelle in der Grabeskirche, auf deren Dach wir stehen, das der hohe Chorbau beherrscht. Reste von Spitzbogen auf Ellbogenkonsolen und Ruinen von Gewölben, in deren Fenstern kleine, grüne Glocken hängen, erinnern daran, daß einst der Kreuzgang des Domherrenstiftes diesen Hof umgab. Man war in Jerusalem vom üblichen Bauplan des Augustiner Ordens abgewichen und hatte den Kreuzgang nicht einer Langseite des Doms, sondern dem Ostchor vorgelagert. Hier, wo einst die stolzen und gelehrten Domherren der vornchmsten Kathedrale der Christenheit hoch über der Plebs im kühlen Abendwind lustwandelten, leben nun die abessinisdien schwarzen Mönche, die ärmsten Kleriker Jerusalems.

In ein Gewölbe des alten Kreuzganges haben sie ihr winziges, dunkles Kirchlein gebaut. Steigt man gebückt über die hohe Schwelle der Pforte, dann glaubt man ein Pharaonengrab zu betreten. In der typischen Haltung ägyptischer Totenwächter lehnen die hageren, dunklen Priester auf den Elfenbeinkrücken ihrer langen Stäbe. Nur so können sie sich während ihrer langen Chorgebete aufrecht erhalten, in denen sie sich auch nicht stören lassen, wenn profane Gäste im hohen Stapel vergilbter Pergamentbände wühlen, deren naive Miniaturen äthiopische Legenden illustrieren. Erst wenn eine vorgeschriebene Pause des Psalmodierens eingetreten ist, zeigen die Priester lächelnd ihre Schätze, kunstvolle Prozessionskreuze, deren Linienornament, dank gleichen Ursprungs, dem der frühchristlichen irisdien Kreuze auffallend ähnlich ist, und Zymbeln und Triangeln, zu deren Takt die schwarzen Mönche im Tanzschritt König Davids ihren Hof unzählige Male umkreisen, wenn eine der Festnächte gekommen ist. V

In seinem blau-goldenen Ornat und der Kuppelkrone aus vergoldetem Silberblech sieht der sdiwarze koptische Abt mit weißem Kringelbart völlig wie jener Mohrenkönig Balthasar aus, dessen Pilgerreise nach Bethlehem hier allmonatlich gefeiert wird und nicht nur einmal im Jahr, wie bei den Nachkommen Kaspars und Melchiors.

Rund um den Hof wohnen die abessinisdien Mönche in kleinen, völlig afrikanischen Lehmhütten. In dieser „Laura“, dieser Mönchssiedlung im frühchristlichen Sinne, hat jeder Fromme sein Häuschen für sich. Zusammen bilden sie ein Liliputstädtdien, das sogar einen Stadtgarten hat. Inmitten der blaugetünchten Häuschen, über die ein großer Mann hinwegsehen kann, steht ein umzäunter Ölbaum. Die Mönche hegen große Verehrung für diesen alten knorrigen Stamm und erklären ihn für den Ölbaum, in dessen Zweigen verfangen Abraham den Widder des Ersatzopfers fand. Im benachbarten Abrahamskloster der Griechen gibt es zwar noch einen Ölbaum, an den sich dieselbe Tradition knüpft, aber die Abessinier behaupten, jener Stamm sei höchstens tausend Jahre alt und kein richtiger Konkurrent.

Die Tradition der westlichen Christen, der Juden und Moslems identifiziert den Tempelfels mit Abrahams Opferaltar. Die Samaritaner reklamieren ihn für ihren heiliger. Berg Gerizim, der dänische Archäologe Aage Schmidt für Shilo. Die Stätte scheint in Palästina umstritten wie der Geburtsort Homers bei den Griechen.

Wir fühlen uns nicht berufen, in dieser Diskussion eine Stimme abzugeben. Auch wenn man Amharisdi könnte, würde man taktvoll den Einwand unterdrücken, daß Abraham doch kaum ein Dach bestiegen haben dürfte, um seinen Sohn zu opfern. — Aber es sollte doch jemand kommen, der die braven Schwarzen im Gebrauch von Christbaumkerzen, von Lametta, Engelshaar und glitzernden Sternen unterrichtet. Ein Dorf, das jeden Monat Weihnacht feiert, sollte seinen richtigen Christbaum haben — ober er nun Abrahams Originalbaum ist oder nicht...

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