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Das Theater in der abendländischen Welt

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Vor einigen lahren gastierten die Münchner Kammerspiele mit Büchners „Woyzeck“ und einem Dürrenmatt-Einakter erstmals auf der Theaterbiennale in Venedig, die Stuttgarter Oper gastierte bereits mehrfach in Paris, und erst vor wenigen Wochen errangen Hans Schälk und sein Bochumer Schauspielensemble im Theatre Sarah Bernhard sogar mit einem französischen Stück, Sartre, „Der Teufel und der liebe Gott“, einen großen Erfolg. Es scheint also, als habe das deutsche Theater wieder den Anschluß an das Theater der übrigen Welt gefunden. So war vom Deutschen Bühnenverein der Zeitpunkt richtig gewählt, wenn er auf seiner Jahrestagung in München einmal das Thema „Das Theater in der Welt“ zur Diskussion stellte. Nicht nur die Vorträge der beiden Gäste aus Frankreich und Italien, Paul-Louis M i g n o n und Francesco C a 11 a r i, sondern auch die Ausführungen Oskar Fritz Schuhs und Hans S c h a 11 a s sowie die impressionenhafte, gelegentlich leicht ironische Plauderei des deutschen Shakespeare-Uebersetzers Hans Rothe über die Unterschiede der Theatermentalität der verschiedenen Nationen ließen eine Stimmung unter den Teilnehmern der Tagung aufkommen, die es jedem erlaubte, zu gleichen Teilen zufrieden mit der eigenen Theatertradition und neidisch auf gewisse Vorzüge fremder Theaterverhältnisse zu sein.

Einhellig beneideten so z. B. die Ausländer die großzügige Subventionierung der Bühnen i m deutschsprachigen Raum durch Staat und

Gemeinden. Erfahrungen in ihren Ländern haben gezeigt, welchen Krisen Ensembles ausgesetzt sind, die ohne eine gewisse finanzielle Sicherheit theatralische Experimente wagten. Ueberdies gäben die Deutsch sprechenden Nationen das Muster für eine kulturelle Breitenleistung bis in die kleineren Städte ab. Deutlich wurde dieser Unterschied durch Mignons Erwähnung, daß in Frankreich selbst eine Stadt wie Lyon (570.000 Einwohner) sich kein eigenes Theaterensemble hält, während z. B. Hans Rothe das Beispiel der Stadt Schleswig (37.000 Einwohner) nannte, einer Stadt also, die trotz ihres mittelstädtischen Charakters ein eigenes Theaterensemble besitzt. Besonders pessimistisch war schließlich das Bild, das Francesco Callari (Rom) von der Diskrepanz entwarf, die zwischen dem ausgesprochenen Theaterbedürfnis der Italiener und den Leistungen ihres Staates für die Bühnen besteht. Der italienische Staat unterstützt das Theaterleben nur spärlich, da er es zu den „Luxuseinrichtungen“ zählt, ja die wenigen Subventionen werden noch von einer (aus Mussolinis Tagen übriggebliebenen) Zensur der Stücke begleitet. Indessen zeichnet sich langsam eine Entwicklung ab, die sich nach dem Muster von Giorgio Strehlers Piccolo Teatro della Citta di Milano, dem ersten italienischen „Stadttheater“, den Formen des deutschen Theaterwesens annähert.

In Frankreich, das legte Paul-Louis Mignon (Paris) daf, ginge die Entwicklung des Theaterlebens ebenfalls in diese Richtung. Nur sei hier nicht in erster Linie die Frage der Subventionierung als vielmehr die Dezentralisierung des französischen Theaters ausschlaggebend. Man habe ein ungutes Gefühl dabei, daß bisher Personen und Theaterleistungen nur dann ein Renoinme erlangten, wenn sie in der Metropole Paris Erfolg hatten. Wie schwierig es ist, diesem übertriebenen Zentralismus des französischen Theaters entgegenzuwirken, zeige einmal die Tatsache, daß heute allein 50 Bühnen in Paris existieren und immer wieder neue dazukämen, während umgekehrt der Versuch der Toulouser Theatertruppe, „Le Grenier de Toulouse“, am eigenen Ort Resonanz zu finden, erst in dem Augenblick Erfolg hatte, da diese Truppe in Paris ein begeistertes Echo fand.

Mignon bejahte indessen natürlich den Wettbewerb der Pariser Bühnen bis zu dem Grade, da er wirklich fruchtbar und qualitätsfördernd ist. Hier war denn auch der Ansatzpunkt für O. F. Schuh und Hans Rothe, wenn sie es als einen Verlust für das deutsche Theater bezeichneten, daß Berlin durch die politischen Umstände seine führende Rolle als stilbildende und — im wörtlichen Sinne — „maßgebende“ Theatermetropole Deutschlands eingebüßt hat. Die in sich geschlossenen Theaterbewegungen des deutschen Naturalismus (Otto Brahm) und des deutschen Expressionismus (Jeßner, Fehling usw.) seien nur durch die führende Rolle Berlins denkbar gewesen. Heute sei Deutschland in Theaterprovinzen aufgeteilt, es gebe keine allgemeingültigen Maßstäbe mehr, ja es habe jede Provinz ihre eigenen Dramatiker, ihre eigenen Stars. Dem stellte aber mit Recht Hans Schalk, der Bochumer Intendant, in dem Referat, das sein Dramaturg Doli verlas, die Notwendigkeit vieler kleinen Theatermetropolen gegenüber. Gerade die guten Provinzbühnen seien Pflegestätten der Ensembleleistung (während die großen Bühnen sich häufig nur auf die „Theatertouristen“ verließen), und sie trügen die Diskussion um die Probleme der Zeit auch in die Breite der Bevölkerung.

Ganz verschieden wurde nun die Rolle des Theaters innerhalb der einzelnen Nationen interpretiert. O. F. Schuh kennzeichnete den Unterschied zwischen der deutschen und der romanischen Theatermentalität, indem er den Unterhaltungstrieb und eine Neugier im besten Sinne als typisch romanisch und den gedanklichen Tiefgang als typisch für die germanischen Völker bezeichnete. Daß der deutsche Hang zum „Tiefsinn“ sich aber auch von der Mentalität der Angelsachsen abhebt, demonstrierte Hans Rothe mit zwei erheiternden Beispielen. Seine Schüler an einer USA-Universität baten ihn einmal, den „Hamlet“ vom Lehrplan abzusetzen, da er zu schwer, unverständlich und unzumutbar langweilig sei. Und der bekannte New-York-Times-Kritiker Atkinson, so fuhr Rothe fort, könne nicht begreifen, warum Goethe allein zwei Stunden darauf verwendet habe, bis Gretchen und Faust endlich zueinander finden.

Theater in der Welt! Die einzelnen Phänomene wurden in einer so gedrängten Vortragsfolge natürlich nur gestreift. Die beste Illustration dieser Erörterungen wäre vielleicht ein Gastspielzyklus von der Art der Zürcher Junifestwochen gewesen, die alljährlich deutsches, englisches, französisches und italienisches Theater in der Ursprache bieten. Aber auch ohne augenfällige Demonstration der Vielfalt des europäischen Theaters bot diese Tagung Anlaß zur Ortung des deutschsprachigen Theaters im Rahmen des abendländischen Theaters. Es fehlt ihm gewiß an der Brillanz des romanischen Theaters und an der Sauberkeit des angelsächsischen Realismus. Aber die Aufgabe, dem Menschen unmittelbar vor die Probleme der Zeit und der eigenen Existenz zu stellen und ihn immer wieder im Geistigen zu bewegen und zu beunruhigen, dürfte das deutschsprachige Theater heute wieder in beachtlichem Grade erfüllen.

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