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Das verlorene Kreuz

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Wer auf den Spuren der alten, frommen Pilgersagen durch Palästina wandert, den mag in Jerusalem verstaubter Prunk und orientalischer Baksdiischbettcl enttäuschen. In Galilea wird kein falscher Ton seine Stimmung stören; in der sdiönen Kuppelkirche, die den Berg der Seligsprediungcn krönt, in den hellen Ruinen der Synagoge, die der Kenturion zu Kaphernaum erbaute, und endlich, schönstes Ziel der Wanderung, im grünen Rund, das einst das himmelüberwölbte Lehrhaus der Bergpredigt war.

Seit dem frühen zwölften Jahrhundert findet die Pilgertradition die Stätte der Bergpredigt in einem längst erlosdiencn vulkanischen Krater über Tiberias. Der abgestumpfte Bergkegel blickt durch das Klippentor des Wadi el Hummam zum See. Er ist von Felszinnen umgeben, nach denen er „Die Hörner von Hattim“ heißt. Grundwasser und Humus machen das Amphitheater des Kraters zur immergrünen, geschützten Lämmerweide. Über seinen Rand schaut man in ein weites Hochtal hinab, das zwischen jähen Klippen endlich zum See abstürzt — das Feld von Hattim, auf dem am 4. Juli 1187 Sala-ed-Din das Heer der Kreuzfahrer und das Königreich Jerusalem vernichtete.

Es gibt Stätten, an denen die Geschichte nicht stirbt, gespenstig lebend bleibt. Der Krater von Hattim ist voll von Mittagsgespenstern. Während die Panzerphalanx der Ritter vergeblich gegen den Wall der Sarazenen anritt, immer wieder, bis sich die Halbmondbanner tödlich um die Verdurstenden schlössen, stand neben dem König und den Meistern der Orden auf dem höchsten Fels des Kraterrandes der Patriarch von Jerusalem. Unterstützt von Diakonen hielt er durch einen nicht endenden Kampftag das Heilige Kreuz aufrecht, das Palladium des Kreuzfahrerkönigreiches. Als es Abend wurde und das leuchtende Kreuz erlosch, war das Heer vernichtet. König und Patriarch waren Gefangene. Mit den Standarten des Königs von Jerusalem, der Templer und Johanniter lag das Heilige Kreuz im Haufen der Beute. Es verschwindet damit aus der Geschichte.

Das Heilige Kreuz von Jerusalem muß das Kreuz gewesen sein, das der Mutter Konstantins um 320 \n einer alten Zisterne (der heutigen Kreuzauffindungskrypta der Grabeskirche) gezeigt wurde. Es bildete den köstlichsten Reliquienschatz der alten Grabeskirche. Die christliche Welt erzitterte, als es die Perser 614 erbeuteten. 628 brachte Heraklius das Kreuz nach Jerusalem zurück. Für seinen triumphalen Einzug wurde das „Goldene Tor“ des Tempelplatzes erbaut. Aus zeitgenössischen Beschreibungen dieses Einzuges wissen wir, daß es sich nicht um eine Kreuzpartikel handelte, sondern um ein großes Holzkreuz in reicher Fassung, das der Kaiser im Pilgerkleide nur mit Mühe durch das Tor tragen konnte.

Kalif Omar ließ den Schatz der Grabeskirche unberührt, als er neun Jahre später in Jerusalem einzog. Es blieb das Privileg der Patriarchen, abendländischen Fürsten als höchste Gunstbezeigung, Splitter der Kreuzreliquie zu verleihen. Tatsächlich sind alle historischen Kreuzpartikel im Material, uraltem Eichenholz, identisch. Die Krcuz-partikel des „Reichskreuzes“ im nun nach Wien heimgebrachten Kaiserschatz dürfte vielleicht Karl dem Großen, wahrscheinlicher einem Hohenstaufen verliehen worden sein. Jedenfalls gehört ihre Fassung der Kreuzfahrerzeit an. Es darf mit einiger Sicherheit angenommen werden, daß das „Reichskreuz“ eine verkleinerte Wiedergabe der letzten Fassung des Heiligen Kreuzes ist. Das würde die ständige Wiederkehr des „croix potent“, des „Krukenkreuzes“, als Wappen und Symbol des Königreidies Jerusalem (zum Beispiel am Reichsschwert), im Gegensatz zu den achtspitzigen Kreuzen der Ritterorden erklären. Wir müssen uns vorstellen, daß das Heilige Kreuz als Feldzeichen des Königreiches wie eines der großen Tiroler Prozessionskreuze getragen wurde, wobei die „Kruken“ von den Tragestangen gestützt waren.

Dieses Kreuz, dessen Fassung von unschätzbarem Materialwert gewesen sein muß, ist seit der Schlacht von Hattim ver-sdiollcn. Seine Rückgabe spielt in allen Verhandlungen eine Rolle, die in einem Jahrhundert mit den Sarazenen geführt werden. Richard Löwenherz verlangt das Kreuz von Salah-ed-Din. Friedrich II. wird die Rückgabe von Malik-al-Kamil zugesagt, Ludwig dem Heiligen von den Mameluken. Da das Kreuz niemals zurückgegeben wurde und nicht angenommen werden kann, daß die Sultane auf seinen Besitz besonderen Wert legten, muß angenommen werden, daß das Heilige Kretiz unmittelbar nach dem Sieg von Hattim verbrannt, seine Fassung zerbrochen wurde. Bei ruhiger Überlegung hätte der Realpolitiker Salah-ed-Din die Zerstörung eines so unschätzbaren Tauschobjekts bestimmt nicht zugelassen.

Jedenfalls — das Heilige Kreuz ist seit siebenhundertsechzig Jahren verloren. Mit dem Palladium war das Glück des Königreiches Jerusalem dahin. Als schmaler Küstenstreifen fristete es durch das nächste Jahrhundert ein prekäres, von äußerer und innerer Fehde verbittertes Dasein. Zu dem Glanz der Tage vor Hattim konnte es sich nie wieder aufraffen.

All das mag verstaubte Historie sein, aber es wird sehr lebendig, wenn man von den Hörnern über das Feld von Hattim sdiaut und durch das Felsentor zum See. Man sieht die Panzerreiter immer wieder vorbrechen gegen das unerreichbare Ziel des blauen Spiegels; die Ritter des Tempels unter dem schwarz-weißen „Beauseant“, die Johanniter unter der Standarte mit dem Roten Kreuz und all die Fähnlein der Barone — zwanzigtausend Mann, das größte Aufgebot des Königreichs Jerusalem, des Herzogtums Antiochia, der Grafschaft Tripolis. Die Frage liegt nahe, warum dieses leuchtendste Abenteuer abendländischer Ritterschaft so elend enden mußte, in Niederlage, Intrige und Hader.

Die Ursachen sind heute klargelegt; das Königreich Jerusalem, eine Gründung kreuzfahrender Barone, war der ideale Feudalstaat kat' exoehen. Der König von Jerusalem war kein Souverän wie seine normannischen Kollegen in England, seine kapetingischen in Frankreich. Er hatte keine Rcdite, nur Pflichten gegen seine Lehensleute. Er war ein sdiwacher Souverän nicht nur dem Herzog von Antiochia, den Grafen von Tripolis und Edessa gegenüber. Auch den vier großen und zwölf kleinen Baronen des Königreiches Jerusalem hatte er, ein „primus inter pares“, kaum etwas zu befehlen. Auf den guten Willen der drei Ritterorden und der autonomen italienischen Kolonien war der schwache König, der meist die Krone als Gatte der Erbtochter trug, völlig angewiesen. Derart konnte das Königreich Jerusalem nur bestehen, solange die Kreuzfahrt vom Papsttum organisiert, internationale Sache der Christenheit war. Sobald die Kreuzzüge dynastischen und sonstigen Zielen einzelner Staaten zu dienen hatten, konnten auch die stärksten Kreuzheere Jerusalem nicht helfen.

Darüber sind die Historiker einig. Überraschend ist, daß keinem von ihnen, weder Röhricht noch Kugler, Ruville, Stevenson oder Barker, die Idee kam, daß diese Ursachen des Verfalls Geburtsfehler des Königreichs der Kreuzfahrer waren. Die Geschichtsschreibung der Kreuzzüge ist noch immer sosehr vom Liberalismus beeinflußt, daß bisher kein Historiker die Frage auf-, geworfen hat, ob jener Dagobert, Erzbischof von Pisa, der in den meisten Werken so schlecht beurteilt wird, nicht vielleicht recht hatte, als er die Theokratie eines souveränen Patriarchen in Jerusalem einsetzen wollte.

Es liegt auf der Hand, daß dieser Patriarch eine viel stärkere Madit über Herzoge und Grafen, Barone und Ordensmeister der Kreuzfahrerstaaten gehabt hätte als der Schattenkönig. Seine Autorität wäre die des päpstlichen Vikars gewesen, des Vertreters des Oberhauptes der Christenheit, dem die Großen des Heiligen Landes geistlich und weltlich lehenspflichtig gewesen wären. Vielleicht wäre Jerusalem die zweite spirituelle Hauptstadt der Christenheit geworden. Zum weltlichen Zentrum des fränkischen Syrien war Antiochia jedenfalls geeigneter, das sich auch ein Jahrhundert länger gegen die Sarazenen hielt. Die Kreuzzugshilfe des Abenlandes wäre logisch in der Hand des Papstes, des Lehensherren von Jerusalem, zentralisiert, koordiniert geblieben.

Es war vielleicht ein Irrtum, als die lothringischen Kreuzritter der biblischen Warnung des alten Samuel vergaßen und aus ihrer Mitte einen König im Heiligen Lande einsetzten..., und man ertappt sich dabei, daß dieses Sinnieren im Schatten der uralten Sykomore zwischen den „Hörnern von Hattim“ aus dem sicheren Halbdunkel der Historie in das grelle Licht der Gegenwart geraten ist.

Hat es heute mehr Sinn, ein Land, dessen im Geiste eine Welt teil hat, in nationale Kanton zu teilen, als einst in feudale Baronien?

Aber das grenzt fast an einen Leitartikel, noch dazu an einen Leitartikel, den so bald niemand drucken wird. Man schüttelt solche altfränkischen Zweifel an UNO ins Unterbewußtsein zurück und schreitet aus, um das Mittagessen in Tiberias nicht kalt werden zu lassen ...

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