6591631-1952_30_05.jpg
Digital In Arbeit

Das zweigeteilte Gesicht

Werbung
Werbung
Werbung

Als die Tschechen 1918 ihren eigenen Staąt bekamen, trachteten sie mit allen Mitteln, einen eigenen Stil herauszubringen. Ministerien und Stadtbauämter, welche Bauten vergaben, machten konsequente Politik. Sie schalteten den deutschen Einfluß aus, der noch mit Josef Zasches Bauten sehr rühmlich am Antlitz der Stadt sichtbar geworden war. Selbst tschechische Künstler, Maler und Bildhauer, die ihrem Volke europäische Hochachtung errungen hatten, jedoch mit dem Makel der Erziehung auf Wiener Kunstschulen behaftet waren, verloren an Chance. Der hochverdiente Kotčra starb verbittert wenige Jahre später. Er wurde vom wilden Nationalismus fast als Kollaborateur hingestellt. (Es hieß damals nicht so. Man sagte einfach: „Rakušan“ = „Österreicher“, wenn man Männer mundtot machen wollte.) Kotera war der Vater der neuen tschechischen Architektur.

Die Herausbringung eines eigenen Stils ist keine einfache Sache. In Prag knüpfte man 1920 an gewisse Leistungen des tschechischen Kubismus an, die bereits vor dem ersten Krieg Aufsehen gemacht hatten. Der Kubismus kam aus Frankreich, er war daher unbedenklicher als Wiener Vorbilder. Das kristallene Gefüge dieses eminent untektonischen Fassadenstils war geometrisch. Geometrie ist leider übernational. Also wurden in der alten mährischen und namentlich in der slowakischen Volkskunst Motive gesucht, die — im gewissen Sinne mit dem neuen Stil verwandt — sozusagen als Ahnenprobe dienen konnten. Die Kunstschüler wurden in Scharen ausgeschickt und übersetzten aus ihren Skizzenbüchern die geometrischen Stickereien und Schnitzereien der Walachei oder der Tatra in steinerne Fassadenflächen. Es entstanden seltsame Bauten, deren Schauseiten mit hochprofilierten Dreiecken und Halbkreisen überwuchert waren. Die Legio- bank und der Neubau der „Riunione Adriatica“ waren hervorragende Beispiele. Sie hatten ein fast mexikanisches Ausjsehen, und natürlich war der deutsche Architekt bei der Gestaltung des Äußeren ausgeschaltet.

Gegen die grobe Art der neuen Fassaden erhob sich selbst unter den gebildeten Tschechen Widerspruch. Wenn man aber heute rückschauend das Problem überdenkt, so kann nicht geleugnet werden, daß die Eigenart der Bauten Aufsehen machte. Die Bildzeitungen der En- tente druckten die Bilder nach und stellten das rein intellektuell und willensmäßig Entstandene als bodenständig dar, als Folklore, welche nur deshalb bisher nicht ans Licht kam, weil Wien die slawisch-künstlerische Taubenseele unterdrückt hatte. „Künstler, macht etwas Neues!“ Selbst in der Kunstgeschichte scheint es darauf anzukommen, „daß etwas geschieht“. Man muß heute objektiv feststellen, daß der Willensakt sowohl als auch das Resultat interessanter sind, als wenn die Bauten in der Herkömmlichkeit entworfen worden wären. Die Bauten sind grob, aber sie sind einmalig. Gerade dadurch, daß sie außerhalb der europäischen Reihe stehen, entzünden sie die Phantasie des Beschauers ähnlich wie die Sagrada Familia in Barcelona, wie das sogenannte Haus des Rienzi, wie das Grabmal des altrömischen Bäckers bei der Porta Maggiore, das Scheffelmaße, Mühlsteine und Backgerät motivistisch verwendet. Es macht nichts aus, daß dieselben Architekten, die diese überreich ornamentierten Kleider den Bürohäusern anzogen, wenige Jahre später — als der Stil in ganz Europa vom Expressionismus in die Sachlichkeit umkippte — auf einjnal Puritaner wurden. Der von 1920 bis 1925 aus dem Boden gestampfte Stilblieb — groß und düster und leidenschaftlich — stehen und ist noch sehr lange Zeit charakteristisches, daher künstlerisch beachtetes Zeugnis dafür, daß die Tschechen, als erste in der Reihe der „Volks- tümer“, die Tradition über Bord warfen und den gelenkten Stil übten.

Warum an alles dies erinnert wird? Weil es Bedeutung für unsere heutige Problematik hat. Unsere Ministerien „lenken“ ja auch. Aber im Gegensatz zu den Tschechen, im Gegensatz zur Holzmeister-Zeit der Ersten Republik lenken sie zumindest zweifach und daher schwächlich. Ein zweigeteiltes österreichisches Gesicht kann keine Wirkung üben. Die Lage der Baukunst ist bei uns nicht gut. Sie ist auch in Deutschland oder Frankreich fragwürdig. Wir brauchen jedoch die Geltung auf künstlerischem Gebiet stärker als Deutschland oder Frankreich. Unsere Baukunst war einst attraktiv. Heute spielen Schweden und die Schweiz die österreichische Rolle. Nicht der Wohlstand allein erklärt dies. Unsere Baukunst war noch nach 1918 sehr angesehen, wie es ja auch ein starker geistiger Faktor sein muß, der es dem architektonischen Italien heute gestattet, sich in den Vordergrund zu spielen. Einst nahmen die Italiener den kühlen Säulenstil der Hofmann-Schule, den die Darmstädter Zeitschriften des wunderbaren Wienerfreundes Alexander Koch über die Welt verbreiteten, zum Vorbild. Heute aber schaut Wien nach Italien.

Es ergibt sich folgende Gedankenkette: Wir brauchen die kulturelle Spitzenleistung. Die Talente sind da. Wer lenkt sie? Wo ist die freie Richtung, in der wir eine Chance haben? Wer bringt gegen die Koterien die notwendige Rücksichtslosigkeit nach dem Beispiel der Tschechen auf, die das Neue sogar um den Preis des Alten erzwingt und gegen die Auslandsnachäfferei Front macht? Dies ist natürlich ein uferloses Thema, welches zunächst nur angetippt sei. „Man muß die Möglichkeiten sehen, um die Wirklichkeit zu erkennen.“ Für eine österreichische selbständige Architektur, die nicht aus der Luft entstehen kann, kann man vielleicht folgende Möglichkeiten skizzieren:

1. Man versucht, den stärkstgeübten, den Reichskanzleistil, österreichischer und freundlicher zu machen. In Salzburg und der Steiermark gibt es für diese Möglichkeiten beachtliche Ansätze. Es wäre ein Fremdenverkehrsstil, zu welchem das Volk „ja“ sagt, der allerdings bei Zubauten restaurierter alter Gebäude meist schwer enttäuscht.

2. Man versucht, Josef Hofmanns Werk, welches in der Innenarchitektur den stärksten Auslandserfolg hatte, auf die Hausarchitektur gemäß den Fortschritten der Bauart und des Grundrisses anzuwenden.

3. Man versucht, den urbanen und modernen, den kaiserlichen Zug, den Otto Wagners Großstadtentwürfe hatten, entkleidet seines sezessionistischen Beiwerks, als Anregung zu benützen.

4. Man versucht, die Stilbildung dem Walten der Zeit zu überlassen und die sparsamste eleganteste Konstruktion etwa im Sinne eines Adolf Loos zur Grundlage zu nehmen.

Natürlich beruhen die in die Diskussion geworfenen, viel zu ungenau erläuterten vier Möglichkeiten auf persönlicher Ansicht. Sie beruheh auf der Meinung, daß man stolz sein und an eigene Vorfahren anknüpfen muß, daß man dem Beifall der Intellektuellen zu mißtrauen hat und daß man „nicht gegen das Volk kann“. Das Volk lehnt- das unverarbeitet aus dem Ausland Bezogene ab. Es ist schwer zu bestreiten, daß aus solcher Haltung ein Dilemma entsteht. Warum soll man heute Eigenständigkeit wichtig nehmen, wenn bisher alle Stile aus dem Ausland kamen? Gegenüber der Not, die die Vereinigung der Kräfte an einem Strang fordert, ist dies Spitzfindigkeit. Sie wäre leicht zu überwinden, wenn wir die lenkende Persönlichkeit hätten, die den kulturellen

Proporz beseitigt, die durch überlegte Besetzungspolitik das Gegeneinander der Kunstschulen mildert, die in Form einer eigenen Zeitschrift oder durch Gewinnung eines ausländischen Verlages, der die Propaganda Alexander Kochs ersetzte, ein Sprachrohr schüfe — eine Persönlichkeit, die die ‘Richtungslosigkeit und mit ihr die Hoffnungslosigkeit beseitigt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung