Dem Geheimnis Cezanne auf der Spur

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Die Ausstellung "Vollendet - Unvollendet" im Wiener Kunstforum ist ein Ereignis.

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Die Ausstellung "Vollendet - Unvollendet" im Wiener Kunstforum ist ein Ereignis.

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Ocker, Grün, Blau und Violett dominieren den Bildraum. Alles scheint in Bewegung. Das Auge blickt gebannt auf die Farbflächen. Stellenweise blitzt die unbemalte Leinwand hervor. Keine präzisen Konturen und Linien: Es wirkt, als würde das Bild erst während des Betrachtens entstehen. Langsam nimmt man im Zentrum der Komposition die Umrisse einer Figur wahr. Auch diese setzt sich aus vertikalen und horizontalen Farbfeldern zusammen. Individuelle Züge sind nicht zu erkennen. Es könnte jeder sein. So konzentrieren wir uns auf das, was dem Maler wesentlich ist: die Komposition, die Erschaffung einer parallelen Wirklichkeit aus Farben, Flächen, Umrissen und die Darstellung eines beliebigen Menschen in der Natur.

Paul Cezanne war ständig auf der Suche. "Werde ich das Ziel, das ich so sehr gesucht und so lange verfolgt habe, erreichen?" Was aber war dieses Ziel, das Cezanne so unermüdlich suchte? Wollte er es überhaupt finden, oder ging es ihm nicht vielmehr um den Weg - die tägliche Erschaffung einer Kunst-Realität parallel zur Natur? Das Bild "Der Gärtner Vallier" an sich fasziniert. Noch mehr fasziniert aber das Wissen darum, daß es Cezanne kurz vor seinem Tod im Jahr 1906 malte, ja sogar vor dem "Motiv" - wie er es wünschte - starb. Und daß er mit einem derartigen Bild beinahe alle wesentlichen Momente der Kunst des 20. Jahrhunderts vorwegnahm. "Wenn mir dieses Männchen gelingt, ist auch die Theorie wahr", soll der "Vater der Moderne" gesagt haben. So, als hätte er trotz tiefer Selbstzweifel geahnt, daß er, das "gescheiterte Genie", wie ihn sein Kindheitsfreund Emile Zola bezeichnete, zum Vorreiter der Moderne schlechthin werden würde.

Daß die Malerei seine Welt war, wußte der 1839 geborene Hutmacher- und Bankbesitzersohn im Grunde schon immer. Auch wenn er phasenweise verunsichert war, etwa weil er die Aufnahmeprüfung an der Ecole des Beaux-Art zweimal nicht bestand, seine Bilder vom "Salon" abgelehnt wurden und er sich auf Wunsch des Vaters doch in einer bürgerlichen Existenz an der Bank versuchte. Die Abkehr von der Künstlerlaufbahn währte nie lange und seit 1862 gab es für Cezanne nur mehr eines: Malerei. Selbst seine Lebensgefährtin und spätere Frau Hortense Fiquet, die er gemeinsam mit dem unehelichen Sohn Paul vor seinem Vater verheimlichte, spielte in Cezannes Leben nur deshalb eine große Rolle, da sie sein wichtigstes Modell war. Zahlreiche Darstellungen wie "Madame Cezanne in gestreiftem Rock" zeugen von den stundenlangen Sitzungen, bei denen Hortense dem Maler geduldig als Studienobjekt im verzweifelten Ringen um die perfekte "Realisation" diente. Nicht zufällig hat sich Cezanne mit dem Maler Frenhofer aus Honore de Balzacs Erzählung "Das unbekannte Meisterwerk" identifiziert: Dieser verfällt dem Wahnsinn, als er nach unendlichen Versuchen, das perfekte Porträt seiner Frau zu malen, vor der Leinwand steht und nur mehr ein Gewirr aus Farben und Linien erkennt, in dem das Gesicht der Dargestellten nicht mehr zu finden ist.

"Wie macht er das bloß? Er kann nicht zwei Farbtupfen auf eine Leinwand setzen, ohne daß es ausgezeichnet ist", fragte Pierre Auguste Renoir. Das scheinen wohl alle Besucher wissen zu wollen, die täglich im Wiener Kunstforum Schlange stehen. Denn dort kann man sich derzeit anhand von 80 Ölbildern und 30 Aquarellen selbst überzeugen, wie intellektuell inspirierend und zugleich sinnlich ansprechend das Werk Paul Cezannes ist. "Vollendet - Unvollendet" ist in mehrfacher Hinsicht ein Ereignis. Zum einen, da es sich um die erste Cezanne-Schau in Österreich seit 40 Jahren handelt. Zum anderen, da Exponate aus der ganzen Welt und aus nahezu allen bedeutenden Museen und Privatsammlungen nun an einem Ort vereint sind. Dadurch kann man dem "Geheimnis Cezanne" durch Bildvergleiche konzentriert näherkommen. Dies ist gerade deshalb spannend, da Paul Cezanne nur wenige Motive Zeit seines Lebens immer wieder variierte. So kennt jeder Kunstinteressierte - auch wenn er nie in Aix-en-Provence war - die berühmte "Montagne Sainte-Victoire" aus Cezannes Sicht so gut, als er hätte er den Berg selbst des öfteren gesehen. Die spätestens seit Peter Handkes "Lehre der Saint-Victoire" beinahe zu einem heiligen Ort erklärte Bergkette hat Cezanne von Jugend an fasziniert, in den letzten Jahren setzte er sich in elf Ölbildern und vielen Aquarellen nahezu besessen mit dieser Landschaft seiner Heimat auseinander. Anhand eines der im Kunstforum gezeigten Ölbilder der Serie "Montagne Sainte-Victoire" aus dem Kunsthaus Zürich wird der Ausstellungstitel "Vollendet - Unvollendet" verständlich: Aus Blau-, Ocker- und Grüntönen baut sich die Bildstruktur wie ein flächiges Gewebe auf. Dazwischen gibt es unbemalte Stellen, an denen die Leinwand sichtbar ist. Ein Phänomen, das die damalige Kritik dazu veranlaßte, die meisten Bilder Cezannes als unfertig zu erklären.

Heute erscheint gerade der Aspekt des Offenlassens, des "non finito" und des Fragmentarischen zeitgemäß. Der Ausstellungstitel ist aber nicht nur in bezug auf das einzelne Gemälde relevant. Es läßt sich auch auf Cezannes Grundhaltung und seine nahezu wissenschaftliche Suche nach einer künstlerischen Parallelwelt interpretieren. Cezanne hat sich von der Kunst als Abbild der Wirklichkeit verabschiedet. Er hat erkennen müssen, daß es das "eine", das "absolute Bild" nicht gibt, auch wenn er ihm ständig auf der Spur war. Insofern stellte er das Serielle, die Idee und den unabschließbaren, künstlerischen Prozeß in den Vordergrund. Ein Moment, das ihn auch der heutigen Kunstszene so vertraut erscheinen läßt.

Bis 25. April 2000.

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