Die namenlose Kunst des Mittelalters hat uns für die Fülle erhaltener und die noch größere Zahl verlorengegangener Denkmäler nur ausnahmsweise Meisternamen überliefert und erst gegen das Ende des Mittelalters, in der Spätgotik, werden unter dem Einfluß des Humanismus und der beginnenden Renaissance Meisternamen häufiger. Um so erfreulicher ist es daher, daß Urkunden und kunstgeschichtliche Forschung uns den Namen eines Michael, des „Baumeisters unserer gnädigen Herren, der Herzoge von Österreich” sicherstellten, der als der größte gotische Meister Österreichs angesehen und den bedeutendsten Künstlern des 14. Jahrhunderts nördlich der Alpen zugezählt werden muß. Denn neben einer Reihe hochwertiger Denkmäler in Niederösterreich können ihm durch Stilvergleichung wichtige Teile des Langhauses vom Wiener Stephansdom und das Konzept zum Stephansturm zuseschri-aben werden.
Die künstlerische Handschrift und vielleicht das Bild Meister Michaels, dessen Zuname nach den Forschungen yon Franz Staub nicht, wie früher angenommen, Weinwurm,• sondern Knab war, erkennen wir an einem urkundlich für ihn gesicherten Denkmale, der „Spinnerin am Kreuz” in Wiener Neustadt, das im architektonischen Aufbau innig mit dem Wiener Stephansdom verwandt ist. Diese schönste gotische Denksäule Österreichs wurde von Wolfart von Schwarzensee gestiftet und in den Jahren 1382 bis 1384 erbaut. Sie zeigt in vier Reliefs die Bildnisse von Ehepaaren, in denen Ferdinand C. Boeheim mit guter Begründung den Erbauer und den Baumeister des Denkmals mit ihren Frauen erkennen will. Michael Knab war nach diesem Porträt damals ein Mann von ungefähr 40 Jahren und stand nach den außerordentlichen, für ihn charakteristischen stilistischen Feinheiten dieser Denksäute auf der Höhe seines Könnens.
Sieben Jahre vor der Wiener-Neustädter „Spinnerin”, im Jahre 1375, hatte unser Meister eine Vorläuferin von ihr in der 1451 durch den Dombaumeister Hans Puchsbaum umgebauten, sagenumsponnenen Wiener „Spinnerin am Kreuz” geschaffen, von der aber zumindest der Sockel und das erste Geschoß mit der für Meister Michael charakteristischen Maßwerkzone noch vom ersten Bau des 14. Jahrhunderts stammen.
Auch andere Denksäulen gehören wenigstens der Schule Michael Knabs an, so das dreieckige Kreuz in Hamburg, das mit seinem Maßwerksockel und den wimperg- und .fialengekrönten Doppelfenstern um den Säulenkern wohl von Knab selbst stammt. Ihm steht auch die von Michael Tutz am 6. Dezember 1381 gestiftete Lichtsäule in Klosterneuburg nahe, bei welcher, bevor eine unverständige Restaurierung sie veränderte, Wimperge mit Krabben und dazwischenstehenden Fialen, wie bei den „Spinnerinnen”, um Baldachinzonen liefen. Ähnliches zeigte auch das mehngeschoßige, im 18. Jahrhundert leider vernichtete prachtvolle Freigrab des hl. Koloman in der Melker Stiftskirche, das Rudolf IV. im Jahre 1365 errichtete, mit seinen Doppelfenstern, seinen Überschichtungen und Baldachinfialen. Auch die für Meister Michael urkundlich gesicherten Bauten der Gottesleichnamskapelle der Neustädter Burg und der Kirche Maria am Gestade in Wien zeigen im Aufbau und in Einzelheiten enge Verwandtschaft mit den genannten Lichtsäulen und dem Stephansturm.
Die Wiener-Neustädter Denksäule aber mutet mit ihrem unmerklichen Leichter- und Schlankerwerden, mit ihren Überschichtungen und Verschleifungen der Stockwerke wie ein Stephansturm im kleinen an, dessen bis ins Detail gehenden Übereinstimmungen dafür sprechen, daß keijj anderer als Michael Knab an seinem Bau führend beteiligt war.
Dazu kommt bei beiden Bauten die starke Entwicklung des Tiefendunkels vor allem hinter den maßwerkgefüllten Wimpergen und den Kreuzblumen und Fialen, welche die darüberliegenden Stockwerke überschichten, ja sogar bei beiden Bauwerken über einer Blendmaßwerkzone den Helmansatz überklettern. In der Überschichtung und Formverschleifung der bei anderen gotischen Türmen deutlich abgesetzten Turmteile beruht ja die Schönheit und Einmaligkeit unseres Stephansturmes.
Als ein besonders charakteristisches Detail seien die an den Sohlbänken der südlichen Doppelfenster des ersten Turmstockwerkes auftretenden Wappenschilde von Oberösterreich, Österreich (Bindenschild), Niederöster- reieh und Steiermark hervorgehoben, die aus historischen Gründen nur unter Albrecht III. vor dem Jahre 1379, spätestens vor 1395 entstanden, sein können und damit die Entstehungszeit des Turmbaues bis zu dieser Schichte festlegen. Diese Wappenschilde werden aber in einer für Meister Michael kennzeichnenden Art in Dreipässe und Halbkreise eingebettet und treten nicht nur am Stephansturm, sondern auch bei der Spinnerin am Kreuz in Wiener Neustadt, am dreieckigen Kreuz in Hainburg, wobei das als „Winzermesser” gedeutete Wappen vielleicht den Halbmond im Wappen Michaels darstellt, und an einem Baldachinstrebepfeiler des Deutsch-Altenburger Chores auf, deren Zusammengehörigkeit beweisend.
Meister Michael aber stellte den Riesenbau des Stephansturmes nicht hart zwischen Langhaus und Chor des Domes, sondern band ihn mit starker Einfühlung für zarte Übergänge durch die gleiche Sockelzone und dieDachgalerie des Chores, die 1 hinter den Dreieckgiebeln des Turmes weiterläuft, mit dem älteren Chorbau (1304 bis 1340) zusammen, ebenso wie durch diese Giebel und die darunterliegenden zweiteiligen Turmfenster die Verbindung mit dem Langhausbau hergestellt wird. Auch im Inneren wird der Hochturm ebenso wie der spätere Nordturm mit dem übrigen Dombau verbunden, da das östliche Larighausjoch, das breiter als die übrigen Joche ist, sich als Querschiff in die seitlichen Türme hinein fortsetzt.
Dieselben zarten Übergänge treffen wir auch bei den westlichen Doppelkapellen der Stephanskirche, die, wie ich an anderer Stelle ausführte, zwar schon bei der Planung des Albertinisdien Chorbaues vorgesehen waren, von denen aber nach Franz Kies- lingers zutreffender Beweisführung die oberen ihre Gestaltung dem Genius unseres Meisters verdanken. Wie wunderbar fein ist die von österreichischem Empfinden getragene Überleitung von dem schweren, mauerbetonenden romanischen Westwerk zu den Seitenwänden des gotischen Langhauses besonders bei den oberen Kapellen. Sie stellen mit den in breites Mauerwerk gebetteten Westfenstern die Verbindung zu den Spitzbogenfenstern der Heidentürme her und leiten mit den seitlichen Doppelfenstern geschickt zu den Doppelfenstern der Langhauswände und des Stephansturmes über. Sind diese oberen Kapellen auch erst in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts fertiggestellt worden, so spricht doch die Übereinstimmung der Fensterformen, des Maßwerkes und der Blendmaßwerkzonen mit den entsprechenden Teilen am Stephansturme, am Turme von Maria am Gestade und an den übrigen für Meister Michael gesicherten Bauten für dessen Autorschaft und beweist, daß Michael Knab bereits in den letzten Dezennien des 14. Jahrhunderts den Entwurf gezeichnet haben muß.
In den gebündelten Wandpfeilern mit den geknickten Wanddiensten und in der Häufung der Figurenbaldachine im Inneren der unteren Südwestkapelle (Eligiuskapelle) sowie bei den Doppelfenstern des Stephansturmes und des Langhauses gibt es auffallende Übereinstimmungen mit der von Berthold von Wehingen, dem einstigen Propst von St. Stephan, gestifteten Freisingerkapelle des Stiftes Klosterneuburg. Damit sind auch Beziehungen zu der Wiener Dombauhütte und ihrem Meister Michael gegeben, der ja auch der Lichtsäule nächst der Klosterneuburger Stiftskirche ihre einstige Gestalt gegeben hatte. Unwillkürlich denken wir dabei an eine Stelle bei dem Geschichtsschreiber Thomas Ebendorfer von Haselbach, nach welcher Rudolf IV. (1358 bis 1365) zum Münsterbau von St. Stephan aus allen Provinzen Österreichs berühmte Werkleute herbeigerufen hatte, unter denen ein armer, aber wunderbar begabter Meister von Klosterneuburg durch seine hohe Kunst im Kirchenbau und durch seinen Gedankenreichtum alle Steinmetzen in Erstaunen setzte. Aus dieser zu Zeiten Ebendorfers noch lebendigen Tradition geht zumindest hervor, daß die in Österreich wiederholt, so in der Romanik und im Barock, führende Klosterbaukunst beim Bau von St. Stephan zu Worte kam, vielleicht aber sogar, daß Meister Michael, dessen großen Anteil am Langhaus- und Turmbau von St. Stephan Formen Vergleichung lehrte, aus Klosterneuburg stammte. Jedenfalls beweist aber die fugenlose künstlerische Einheitlichkeit des Stephansturmes im Gesamtaufbau und in Einzelheiten, daß dieser schönste gotische Riesenturm Europas trotz der Tätigkeit nacheinanderfolgender Dombaumeister nur dem Konzepte eines einzigen genialen Meisters entsprungen sein kann, als den wir „Meister Michael, den Baumeister der Herzoge von Österreich”, annehmen müssen.
Läßt sich die Urheberschaft Michael Knabs an Teilen des Langhauses und am Konzept des Stephansturmes zwar nur durch Formen- und Stilvergleichung beweisen, so stehen doch keinerlei Urkunden dieser Annahme entgegen. Denn zwischen dem am 10. Februar 1368 im Wiener Kaufbuche eingetragenen „Seyfriedus, magister operum ad Sanctum Stephanum”, und dem erst 1399 als Baumeister von St. Stephan überlieferten Ulrich dem Helbling klafft eine Lücke in der Reihe der Baumeister. Da aber bis zum Jahre 1395 das Ernennungsrecht der Dombaumeister beim Landesfürsten lag und erst seit dem Testamente Albrechts III. vom 27. August 1395 un d dem Habsburgischen Familien vertrage von Hollenburg am Ž2. November desselben Jahres Sache des Bürgertums wurde, so liegt die Annahme nahe, daß der wiederholt als „Baumeister der Herzoge von Österreich” genannte Michael Knab damals Dombaumeister von St. Stephan war. Unter den „Herzogen von Österreich” aber können wahrscheinlich schon Rudolf IV., sicherlich aber die Herzoge Albrecht III. und dessen Sohn Albrecht IV. und die Habsburger der steirischen Linie Leopolds III. und dessen Söhne Wilhelm, Leopold IV. und Ernst verstanden werden.
Unser Meister sollte im Jahre 1394 auch den Grundstein zu einem weiteren, der Wiener Dombauhütte zugehörenden Bau, dem Langhaus von Maria am Gestade, legen, nachdem er vorher sicherlich schon den Turmbau dieser Kirche vollendet hatte. Denn auch hier finden wir in Einzelheiten die Hand unseres Meisters, so in den von Fialen überwachsenen Balustraden, die den Helmansatz überwuchern, und in den im durchbrochenen Helm eingebauten Dreieckgiebeln. Vom Langhausbau zeichnete Meister Michael wohl nur den Entwurf und leitete den Baubeginn, da bereits 1397 Dietrich Etzelfelder und 1403 Konrad Rampersdorfer als Baumeister aufscheinen, die sich aber, wie ein vergleichender Blick auf Einzelheiten an den anderen Bauten Michael Knabs lehrt, an die Visierung unseres Meisters hielten. Die Verwandtschaft der Sterngewölbe, die durch die Fialen laufende Dachgalerie, die an St. Stephan und Wiener Neustadt erinnernde Form der Fialerj, das mächtige Westfenster und die bei St. Stephan und der Freisingerkapelle von Klosterneuburg auftretenden Knickungen in den Diensten der Figurenbaldachine seien als Verbindungsglieder hervorgehoben.
Im Jahre 1397 aber sind, wie ausgeführt, bei Maria am Gestade, 1399 bei St. Stephan andere Baumeister überliefert, so daß wir damals die Bautätigkeit Meister Michaels in Wien als beendet ansehen müssen, wobei der Umstand mitgewirkt haben mag, daß schon im Jahre 1395 die Habsburger sich vom Dombau zurückgezogen hatten. In deren Diensten aber hatte der herzogliche Baumeister auch zwei mächtige Schlösser erbaut, so das im Renaissanceumbau aufgegangene Schloß in Laxenburg für Herzog Albrecht III. und die landesfürstliche Burg zu Wiener Neustadt für Herzog Leopold III. Von dieser ist wenigstens die 1397 bezeichnete zwischen 1439 und 1450 allerdings umgebaute Gottesleichnamskapelle noch feststellbar.
Michael Knab wird zum letzten Male als herzoglicher Baumeister am 13. Oktober 13.99 in einem Kaufbrief des Wiener-Neustädter Stadtarchivs als Siegelzeuge genannt und erst im Jahre 1418 als bereits gestorben erwähnt. Zwischen diese beiden Jahre fällt daher sein Todestag.
Fragen wir nach der Schulzugehörigkeit des genialen Meisters, so weisen die geschilderten stilistischen Zusammenhänge fast ausschließlich auf die gotische Baukunst Österreichs. Hier waren unter dem Einflüße burgundischer Zisterziensergotik und italienisch-südfranzösischer Bettelordensbauten jene auf der reichen Spätromanik unseres Landes fußenden österreichisch-gotischen Vorbilder entstanden, deren im Rahmen der Wiener Bauhütte ausgebildeten Elemente unser Meister in schöpferischer Synthese in seinem genialen Werke vereinte.