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Der große Brockhaus

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Sechzehnte, völlig neu bearbeitete Auflage in zwölf Bänden. Zweiter Band. Ber bis Cz. Wiesbaden. Eberhard Brockhaus, 1953. 780 Seiten. Preis 39 DM.

Den zweiten Band des Großen Brockhaus zieren vor allem die inhaltreichen, prall konzentrierten und doch angenehm lesbaren Artikel über Brasilien, das Britische Reich, die Bundesrepublik Deutschland, Byzanz, China und über die Chemie. Der Kundige wird sodann mit dankbarer Freude die sorgsamen — und nur in bezug auf den europäischen Osten nicht ganz hieb- und stichfesten — Ueberblicke begrüßen, die wir zur Bibliographie, vom Bibliothekswesen und über Buchproduktion erhalten. Weitere Länderartikel von Belang: Böhmen, Bolivien, Bulgarien, Burma, Chile, Cuba; sie alle nach einem vortrefflichen Grundschema angelegt. Von den Städte-Stichworten tritt begreiflicherweise Berlin in den Vordergrund. Dahinter erwähnenswert Bern, Bonn, Bremen, Breslau, Chikago. Der Artikel über Brüssel bleibt uns den eigenartigen Zauber dieser liebenswürdigen, lebensstrotzenden Stadt schuldig. Bei Budapest und Bukarest vermissen wir den Hinweis auf die, bei allem Widerspruch gegen die volksdemokratischen Regimes, großartigen Leistungen des Aufbaues seit 1945 und auf die den heutigen veränderten Charakter dieser Residenzen bestimmenden Monumente und architektonischen Neuschöpfungen. Der Artikel Bibel, stoffprall und gutunterrichtend, bezeigt die ängstliche Sorge, nicht anzustoßen. Nicht minder dankenswert ist die ruhige Sachlichkeit, mit der im Lexikon das Problem Bolschewismus beleuchtet wird. Derlei kühle Haltung wird freilich gläubige Menschen betrüben, wenn sie sich am Christentum als „Beschreibung der Hauptformen sowie Ueberblick über geschichtliche und kulturgeschichtliche Bedeutung“ bekundet. Da scheidet sich eben der weltanschaulich Gebundene vom nur Duldsam-Verständniswilligen, der dem „Vase vide“ seine ehrerbietige Achtung bezeigt. . .

Sehr gute Darstellungen finden wir aus dem Gebiet der Zoologie — Biene —-, der Botanik — Blüte —, der Biologie — Blut, Blutkreislauf, Blutgruppen —, der Technik — Bergbau, Brücke —, und der Volkswirtschaft — Beruf, Betrieb, Börse. Die Artikel Burg und Chronologie wird der Historiker mit Vergnügen als gedrängte Zusammenfassung des heutigen Standes der Wissenschaft anerkennen. Spezielles Lob sei den Stichworten Bildnis, Bildung, Bürger und Buddha-Buddhismus gezollt. Vom biographischen Teil haben uns folgende Einzelnotizen besonders befriedigt: Bismarck (ungeachtet mancher Konzessionen an ältere nationalliberale Ansichten), Wilhelm Busch, Byron (auch im Hinblick auf die knappen Einwendungen), Calderön, Calvin, Cäsar, Cavour, Cervantes, Cezanne, Chateaubriand, Churchill (obgleich wir für die schriftstellerische Größe Sir Winstons wesentlichere Zeugnisse wüßten als den Nachruf auf Georg VI.), Cicero, Paul Claudel, Clemenceau (anerkennenswert

gerecht gegenüber dem Deutschenfeind), Joseph Conrad (ungenügend freilich das Polnische an ihm), Corneille (blendend gut erfaßt), Benedetto Croce, Cromwell.

Nachdem wir noch die schönen Bildbeigaben und die, im Einklang mit der Brockhausschen Tradition, prächtigen Karten gebührend gepriesen haben, obliegt uns nun die weniger dankbare Aufgabe kritischer Anmerkungen. Diese sind doppelter Art. Die einen könnten sich gegen die Gesamtanlage oder gegen die Tendenz, gegen Stoffauswahl oder Stoffverteilung richten. Auf sie wollen wir von vornherein verzichten. Wer immer den Brockhaus zu Rate zieht, der weiß — oder sollte wissen —, daß er es mit einem Werke zu tun hat, das, wie jedes menschliche Hervorbringen, nicht von seiner Umwelt oder von seiner Fpoche zu trennen ist. Ein Lexikon, erwachsen auf dem Boden des deutschen bürgerlichen Liberalismus, kann nicht seinen Standort verleugnen; es wird also, der erstrebten möglichsten Objektivität ungeachtet, beim Nichtdeutschen, beim Marxisten, beim positiven Katholiken oft auf Widerspruch stoßen. Doch man wird dabei die Anständigkeit der Gesinnung, das Maßvolle im Verteidigen der eigenen Ansicht beachten, jene Vorzüge, um die sich der Große Brockhaus stets bemüht. Es ist ferner unvermeidlich, daß die Meinungen über die den einzelnen Schlagworten zuzumessende Bedeutung voneinander abweichen. Anders verhält es sich mit gewissen Unzulänglichkeiten, die durch keinerlei zu respektierende Ueberzeugung begründet werden, und mit unleugbaren Irrtümern, mit systematischer oder zufälliger, auf Uebersehen beruhender Nichtaufnahme von Personen, deren Wichtigkeit kaum zu bestreiten ist.

Vom österreichischen Standort aus beklagen wir Reste einer Minderbeachtung, die einst in reichsdeutschen Nachschlagwerken Regel war. Hier einige Belege: Unter den biographischen Artikeln fehlen in Band 1 und 2 die Ministerpräsidenten Bienerth, Clam-Martinitz, Clary-Aldringen, die führenden Staatsmänner Abra-hamowiez, Bacquehem, Baernreither, Belcredi, Johann Nepomuk Berger, Bilinski, Braf, Brestel, Chlumecky, die graue Eminenz, Franz Josephs Kabinettsdirektor Braun, die beiden hervorragenden Berater Franz Ferdinands, Feld-marschalleutnant Bardolff und Generalmajor Broscfi, Kriegsminister und Heerführer Auffen-berg, eine so einflußreiche Gestalt wie der Herausgeber der „Neuen Freien Presse“, Moriz Benedikt, die Leuchten der Wiener medizinischen Fakultät Albert Chrobak und Chvostek, aus der Literatur z. B. Ayrenhoff, einer der wenigen zeitgenössischen Autoren, die vor Friedrich dem Großen Gnade fanden, Karl Beck und Max Burkhard, dann, uns zeitlich nähet und unbegreiflicher-

weise der Weltenfahrer Bernatzik (samt seinem originellen Vater, dem geistreichen Staatsrechtslehrer), der heutige eminente Nachfolger des älteren Bernatzik, Adamovich, der Aegyptologe Czermak, der glänzende Historiker Otto Brunner, die beiden Mediziner Arzt und Antoine, der in den USA berühmt gewordene Psychiater Allers, der Kunstforscher Otto Benesch, der Biologe Bertalanffy, der Komponist Ralph Benatzky. Doch nun über die österreichischen Grenzen hinaus, zunächst westwärts. Den Franzosen mangelt es auch nicht an Beschwerdegründen. Allein im zweiten Band des Großen Brockhaus vermissen wir die beiden Bertrand, Joseph, den Mathematiker, und Marcel, den Geologe.i, die beiden Berard, Leon, den Akademiker und Staatsmann-Diplomaten, und Victor, den Homer-Forscher, den Kardinal Berulle, Begründer des für Frankreichs Geistesgeschichte so wichtigen Oratoire, den klassischen Philologen und glänzenden Historiker Boissier, den gefeierten Dramatiker und Autor der „Robe rouge“, Brieux, den genialen Physiker Branly, den bahnbrechenden Chemiker Chevreul, dem nicht einmal die 103 Jahre seines gesegneten Erdenwallens Gnade verschafft haben, den Marschall und Eroberer Algeriens Clauzel, die größte Gestalt der französischen mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte und königlichen Kaufmann von Bour-ges, Jacques Cceur, den weltberühmten Schauspieler Coquelin, die glorreiche Familie der Cosse-Brissac, den Admiral Courbet, ganz unerklärbar Paul-Louis Courier, eine der ragenden Stützen der französischen Prosa, ferner Adolphe Cremieux, die Hellenisten Brüder Croiset, den Historiker Cavaignac (Sprossen des Staatsmannes und Generals), den Diplomaten Chambrun, den Direktor der Pariser Nationalbibliothek Cain, den maßgebenden Kritiker Albert Beguin und dessen Schweizer ' Mitbürger austrodalmatinischer Herkunft, den bildenden Künstler Cingrija.

Was besagt ferner die Wendung, Peter Altenberg habe „seine jüdische Herkunft und seinen ärztlichen Beruf verleugnend als literarischer Bohemien“ gelebt — als ob es nie jüdische Kaffeehausliteraten gegeben habe und als ob nicht Max Jacob diesen Typus auf dem Montmartre so rein verkörpert hätte wie Altenberg in den Wiener Nachtlokalen, und als ob dieser je seine medizinischen Studien ernstlich betrieben hätte. Noch höherer Unsinn: „Stephan Bäthory (* 1533, t 12. 12. 1586) wurde zum Fürsten von Siebenbürgen und König von Polen gewählt. Gabriel B. (* 1589, t 27. 10. 1613), ein Sohn des Polenkönigs Stephan, wurde nach einer fünfjährigen grausamen Regierung in Großwardein ermordet.“ Die Grausamkeit rührte wohl daher, daß Gabriel drei Jahre im Mutterleib ausgetragen wurde, doch diese Hypothese scheitert daran, daß ihn schwer zugängliche Quellenwerke, wie z. B. ein jedes ungarisches Geschichtslehrbuch für Mittelschulen, als Sohn eines anderen Stephan Bäthory erweisen. Die Verwechslung rührt — in diesem Fall nachzuprüfen — von der bedauerlichen Leichtfertigkeit her, mit der ein stupider gedankenloser Irrtum der berüchtigten genealogischen Tabellen Bahnsons (I, 122) nachgeschrieben wurde. Als Paradigmen horrender Druckfehler nennen wir „Czyhlarcz“ statt Czyhlarz und Clemenceau mit einer Cedille (im Artikel Czernin).

Nicht ohne Zögern haben wir aus einem weit umfänglicheren Katalog der Uebersehen und Versehen diese unsere Auswahl dargeboten. Wir glauben aber, nach allem verdienten Lob für die Gesamtleistung, einem Werk wie der Große Brockhaus besser zu dienen, wenn wir auf einige noch im Laufe des Erscheinens abstellbare Schwächen hindeuten, als indem wir uns der süßen Gewohnheit fügen, die üblichen Hymnen auf eine großartige Gesamtleistung anzustimmen, die dem Kundigen gerade an der verhältnismäßigen Geringfügigkeit der begründeten Vorbehalte sichtbar wird.

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