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Der Mensch: 100 Milliarden graue Zellen?

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Die Wissenschaft ist tief in die Geheimnisse des menschlichen Bewußtseins eingedrungen. Den Sitz der Identität hat sie bisher nicht gefunden.

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Die Wissenschaft ist tief in die Geheimnisse des menschlichen Bewußtseins eingedrungen. Den Sitz der Identität hat sie bisher nicht gefunden.

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Alles, was ich von außen wahrnehme, könnte Täuschung sein, alles, was ich denken mag, könnte falsch sein - aber im Zweifel werde ich jedenfalls meiner selbst als eines denkenden Wesens bewußt", schrieb der französische Philosoph Rene Descar-tes (1596 bis 1650). Dies drückte er in dem berühmten Satz „Ich denke, also bin ich" aus, der Ausgangspunkt und Fundament seines philosophischen Denkens ist. Den menschlichen Geist, den er für von Gott geschaffen hielt, überläßt Descartes der Theologie. Den Körper jedoch, die leb- und gedankenlose räumliche Welt, gibt er frei für die wissenschaftliche Erforschung. Durch diese Trennung wurde Descartes zu einem der Begründer des neuzeitlichen wissenschaftlichen Weltbildes.

Descartes glaubte, daß die an der menschlichen Gehirnbasis gelegene Zirbeldrüse das Verbindungsglied zwischen Körper und Geist sei. Damit lokalisierte Descartes das Denken an jenem Ort, wo es auch von der heutigen Wissenschaft geortet wird: im Gehirn, jenem eineinhalb Kilo schweren Knäuel aus rund 100 Milliarden miteinander vernetzten Nervenzellen, das jeder Mensch in seinem Kopf trägt. Vier Fünftel der Hirnmasse entfallen auf das Großhirn. In den unzähligen Furchen und Windungen seiner Schale - der Großhirnrinde -spielt sich nach Ansicht der heutigen Gehirnforschung das menschliche Denken ab.

1861 fand der französische Chirurg Paul Broca heraus, daß gewisse Sprachstörungen Folge der Zerstörung eines bestimmten Teiles der linken Gehirnhälfte waren. Seither wurde das Gehirn regelrecht karto-graphiert: So weiß man zum Beispiel, daß der linke Gehirnlappen für das Artikulieren, ein bestimmtes Gebiet im linken Schläfenlappen für das Verstehen von Sprache zuständig ist. Durch elektrische Reizung bestimmter Stellen der Großhirnrinde läßtsich das Denken sogar steuern wie von einem Schaltpult aus: Durch ins Gehirn eingeführte Elektroden oder von außen einwirkende Magnetfelder können in eineni Patienten PLrinne-rungen, das Höreri von Melodien oder Geschmacksempfindungen ausgelöst werden. Komplexere geistige Lei stungen lassen sich nicht mehr derart lokalisieren; die Einteilung des menschlichen Gehirns in Zentren ist nur eine sehr grobe Vereinfachung. Noch stellt das Gehirn die Wissenschaft vor viele Rätsel.

Durch Schlaganfälle, Unfälle, Krankheiten oder Operationen können Teile des Gehirns verlorengehen. Die Sprechfähigkeit, das Sprachverständnis, oder das Gedächtnis - alles mögliche kann solchen Menschen abhanden kommen, ohne daß andere Fähigkeiten dadurch beeinflußt würden. Dies führt zu oft bizarren Krankheitsbildern: Der US-Psychologe Alex Martin etwa arbeitet mit Patienten, die unter Agnosie oder Seelenblindheit leiden. Diese Menschen haben die Fähigkeit verloren, bestimmte Klassen von Objekten zu erkennen. Sie sehen die Objekte zwar, sind jedoch unfähig, sie zu erkennen, ihnen eine Bedeutung zu geben oder ihren Namen zu nennen. Am häufigsten geht eine der beiden semantischen Klassen „Lebewesen" oder „Artefakte" (von Menschenhand geschaffene Gebilde) verloren, wie Martin in der Zeitschrift „Nature" berichtet.

Der New Yorker Neuropsychologe Oliver Sacks berichtet von einem Patienten namens Thompson, der sich an nichts länger als ein paar Sekunden erinnern konnte. Um seine „Abgründe von Amnesie" (Sacks) zu überbrücken, improvisierte er in einem nicht endenwollenden Wortschwall eine Phantasiewelt, in der er sich für kurze Zeit zu Hause fühlen konnte, bevor sie nach wenigen Minuten im Vergessen versank. Eines Tages büch-ste der Patient aus der Klinik aus: „Ein Taxifahrer, mit dem wir später sprachen, sagte, er habe noch nie einen so faszinierenden Fahrgast gehabt. Mr. Thompson habe ihm eine Geschichte nach der anderen erzählt. Er schien schon überall gewesen zu sein, alles gemacht zu haben und alle möglichen Leute zu kennen", notiert Sacks in seiner Fallsammlung „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" (Bowohlt Verlag).

Dem Patienten Thompson war nach Sacks Einschätzung die Identität abhanden gekommen. Keine noch so phantasievolle Scheinwelt konnte ihm jene Kontinuität des (Sich-selbst-)Erlebens ersetzen, die ihm aufgrund seiner Amnesie fehlte. Auch der deutsche Neurochirurg Detlev B. Linke ist der Meinung, daß Veränderungen im Gehirn sich auf die Identität auswirken können: „Sehr viele Hirnfunktionsstörungen lassen sich nicht so beschreiben, als ob nur das Werkzeug gestört wäre und der Handwerker dabei unversehrt bliebe. Das beliebte Bild von der Seele als Klavierspieler und dem Gehirn als Klavier ist für die Situation vieler Hirn verletzter unzutreffend. Bei zahlreichen Hirnverletzungen handelt es sich nicht nur um eine Störung des Ausdrucks, sondern auch des Ausdrückenden selber", schreibt er in seinem Buch „Hirnverpflanzung".

Die Frage der personalen Identität entzieht sich bisher einer naturwissenschaftlichen Erklärung. Tatsächlich läßt sich nirgendwo im Gehirn ein Zentrum der Personalität, ein Sitz des Ich ausmachen. Klinische Versuche haben gezeigt, daß die beiden Gehirnhälften völlig unabhängig voneinander arbeiten und sehr verschiedene Identitäten aufweisen können (siehe Seite 15). Linke jedenfalls spielt den Ball - wie schon einst Descartes - an die Theologie weiter: „Es fält im Umgang mit Hirnverletzten schwer, sich vorzustellen, daß sie einen Teil ihrer Seele verloren hätten. Auch traditionelle Glaubensvorstellungen kommen hier an ihre Grenze. Soll man vielleicht annehmen, daß ein Teil der Seele schon bei Gott ist und der andere auf geschädigte Weise noch an dem geschädigten Hirn haftet?"

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