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Der Neunte Band des Großen Brockhaus

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Die großen Vorzüge und die kleinen Schwächen des führenden deutschen Konversationslexikons sind zu bekannt, als daß von beiden immer wieder die Rede sein müßte. In diesem Bande ragen besonders die Zusammenfassungen über allgemeine naturwissenschaftliche Themen hervor, ferner die damit häufig verknüpften technischen Schlagworte: Periodisches System der Elemente, Perspektive, Photographie, Photogrammetrie, Photozelle, Physik — vorbildlich —, Planeten, Polarisation, Rakete, Raum, Raumfahrt — musterhafte Einführung in ein die breiten Massen fesselndes, weithin ungeklärtes Problem —, Rechenautomaten — ebenso wohlgelungen in bezug auf ein schon verwirklichtes, tief in die mannigfaltigsten Bezirke des Denkens und des Wissens eingreifendes Vorhaben und in seine praktische Lösung —, Rechnen, Reflex, Relativitätstheorie (wobei allerdings noch nicht auf die neuesten Korrekturen eingegangen wird, die Heisenberg an ihr vornimmt). An zweite Stelle rücken wir die Darstellungen aus dem Gebiet der Politik und der Soziologie, z. B. über Pazifismus, Politik, Proletariat, Public Relations, Rasse, Rationalisierung, Recht, Revolution — wobei wir allerdings, wie stets, mangelndes Beachten der gesamten östlichen Fachliteratur beklagen. Drittens: Philosophie, einen guten, doch allzu knappen Gesamtartikel an der Spitze, danii etwa Person, Phänomenologie, Positivismus, Psychoanalyse, Psychologie, Pvthagoräer, Rationalismus, Realismus, Renaissance; die letzterwähnten Schlagworte leiten hinüber zu den recht ungleichmäßigen der Literatur gewidmeten Artikeln. Im Bereich der Sprachwissenschaft fällt der ausgezeichnete Beitrag über Personennamen angenehm auf, während in der sonst vorzüglichen Ueber-sicht der Philologie durch völlig ungenügende Berücksichtigung der französischen, italienischen, spanischen, britischen und slawischen Forschung gerade beim rasch Aufschluß suchenden unzünftigen Gebildeten der falsche Eindiuck geweckt wird, nur die Deutschen hätten seit der Renaissance als Philologen etwas zu bedeuten. Die religionswissenschaftlichen Ausführungen sind von sympathischer Duldsamkeit, die aber keineswegs den eigenen protestantischliberalen Standort verleugnet, dabei um Gerechtigkeit gegenüber dem Katholizismus bemüht bleibt und sich von überheblichem Aufkläricht fernhält. Wir nennen da als erfreuliche Zeugnisse dieser Geisteshaltung die Artikel über Paulus, Petrus, die Päpste Pius IX., X., XL, XII. — die Papstbiographien rühren möglicherweise von Katholiken her —, den Protestantismus, die Reformation, Religion, Religionsphilosophie und Religionswissenschaft.

Aehnliche Weitherzigkeit begegnet uns in den durchwegs sehr geratenen, umfänglicheren biographischen Notizen, aus deren Vielfalt wir herausheben: Pascal, Peguy, Pestalozzi, Peter I. von Rußland, Piaton, Proust, Puskin, Racine — meisterhaft — Raffael, Rembrandt — glänzend —, Kardinal Richelieu, Rilke, Rimbaud (diese beiden vielleicht einige Töne zu hoch). Schließlich die geographisch-historischen Artikeln. Im Vordergrund stehen Peking, Peru, die Philippinen, Polarforschung, Polen, Polynesien, Portugal, Prag, Preußen, der Rhein, Rheinland-Pfalz, Rhein-Main-Gebiet, Rhein-Ruhr-Gebiet, dazu für das Geschichtliche Persien und die Phönizier. Vorbehaltloses, starkes Lob verdienen die ums Wirtschaftliche gruppierten, mit reichem statistischem Material versehenen Schilderungen der deutschen Rheingebiete. Recht gut sind die Abschnitte über Peking, Peru, die Philippinen, Polynesien und Portugal, ausgezeichnet, mit Ausnahme eines einzigen ressentimentgeladenen Satzes, ist das Schlagwort Prag. Man kann darüber streiten, ob es der Oekonomie des Gesamtlexikons entspricht, der Geschichte Preußens sechs Seiten einzuräumen, wenn die Portugals auf einer Seite abgetan wird, unbestreitbar dünkt uns, daß die preußische Vergangenheit durch den Großen Brockhaus allzusehr im rosigen, das heißt im schwarzweißen Licht erstrahlt.

Einzelkritik, in erster Linie das Aufstellen einer beliebig zu verlängernden Fehlliste, ist an einem L.nternehmen wie dieser Enzyklopädie unseres heutigen Wissens immer leicht. Die Herausgeber eines Lexikons müssen aber dem harten Gesetz des innen zugemessenen Raumes gehorchen. Kleine Irrtümer sind unvermeidbar. Wenn ich, der beiden eben erwähnten Umstände wohl bewußt, trotzdem stichprobenweise auf einige Versehen hinweise und eine Ergänzung zur Nomenklatur der durch biographische Notizen hervorzuhebenden Personen gebe, so geschieht dies nur in der Hoffnung, damit der Redaktion des Großen Brockhaus und dessen Lesern für spätere Supplementbände oder für die nächste Neuauflage einen kleinen Dienst zu erweisen. Zunächst möge man die Daten über den europäischen Osten etwas genauer durch Sachkundige prüfen lassen. Dann würde es vermieden sein, daß z. B. bei Mätyäs R ä k o s i dessen eigentlicher Name (Roth) und seine Mitgliedschaft in der Regierung Bela Kuns nicht verzeichnet werden, daß er — der seit 1953 nie mehr Ministerpräsident, sondern „nur“ Erster Parteisekretär der ungarischen Kommunisten war, als „seit April 1955 Min.-Präs.“ erscheint und daß endlich keine Bibliographie seiner Reden und Werke sich vorfindet. Fürst Janusz R a d z i w i 11 ist nicht 1939 oder 1940 gestorben, sondern er kehrte wohlbehalten nach Kriegsende aus sowjetischer Internierung heim und lebte — im Augenblick, da ich diese Rezension niederschreibe — in Warschau. Die Artikel über Boleslaw Prus, dessen Hauptwerke, neben der zutreffend genannten „Lalka“ die „Emancypantki“ und „Faraon“ sind, nicht aber „Placöwka“ und über den zwar mein unbedeutender Aufsatz, nicht jedoch einige der neuesten Standarddarstellungen erwähnt werden, ist ebenso unzureichend wie der allgemeine über polnische Kunst. Bei den P i a s t e n hätten die zwei Hauptark-iten. das polnische von Balzer und das deutsche von W u 11 k e, angeführt werden müssen. Bringt man grundsätzlich die ursprünglichen Namen pseudonymer Schriftsteller, warum nicht auch z. B. bei Remarque (Kramer)?

Nun zur Fehlliste. In sie gehören unter anderen: der französische Kanzler P a s q u i e r, sein Landsmann, der Finanzier P a u 1 e t (nach dem die berüchtigte Steuer Paulette benannt wurde), das Florentiner Geschlecht der P a z z i, der sowjetische Staatsmann Pervuchin, der österreichische Ministerpräsident P i 11 e r s d o r f (Autor der nach ihm genannten Verfassung von 1848), der belgische Historiker Jacques P i r e n n e (dem Vater, Henri, an Bedeutung zumindest gleich und als Hauptberater Leopolds III. in die Zeitgeschichte eingegangen), das franko-russische, gefeierte Schauspielerehepaar P i-t o e f f, die beiden österreichischen Politiker von P 1 e n e r, der tschechische Geistliche, kommunistische Kollaborant und Minister PI o j h a r, der französische Außenminister LudwigsXIV.. Pompoune, der französische volktjimliche Schauderromanfier Ponson du Terrail, der Atomphysiker P o n t e c o r v o, der Publizist P o p o v i c i (Hauptvorkämpfer des Donauföderationsgedankens), der spanische Minister Kardinal Portocarrero, aus der polnischen Magnatenfamilie Potocki noch unbedingt Szczesny (Führer der Russenpartei zur Teilungszeit) und Stanislaw (Vorkämpfer der Aufklärung), der französische Bildhauer P r a d i e r, der jugoslawische Politiker Pribicevic, der große mexikanische Romantiker P r i c t o, der serbische Staatsmann P r o t i c, der polnische Dichter P r z y b o s und sein Kollege sowohl in Apoll wie zeitweilig als Diplomat P u t r a m e n t,' die französischen Schriftsteller Queffelec und Q u e-n e a u, der überragende uruguyanische Erzähler Q u i r o g a, der polnische Staatspräsident im Exil R a c z k i e w i c z, der Oberbefehlshaber der englischen Armee im Krimkrieg Lord Raglan, der französische Filmschauspieler R i m u, der französische Historiker R a m b a u d. der harte Befrieder Algeriens Marschall R a n.d o n, der bedeutende tschechische Politiker und Finanzmann R a S i n, der Chemiker und Politiker R a 8 p a i I, der Bekämpfer des Kolonialsystems und Schriftsteller Abbe R a y-n a 1, der österreichische Außenminister Graf Rechberg, die weltberühmte Schauspielerin R e j a n e, der Vorsitzende des Directoire R e w b e 11, der glänzende mexikanische Schriftsteller Alfonse R e y e s und sein chilenischer Namensvetter Neftali R e y e s, der jugoslawische Politiker R i b a r, der französische Ministerpräsident Alexandre R i b o t, sein Vorgänger Herzog Armand de Richelieu, bekannt auch als russischer Verwaltungsmunn zur Zeit der Emigration und Schöpfer Odessas, endlich der spanische Nationalheld General R i e g o. Bebilderung und vor allem Karten heischen, wie immer beim Großen Brockhaus, auch beim neunten Band dankbare Anerkennung. Die Auswahl des Dargebotenen scheint uns nur beim Plakat wenig glücklich. Sie entzückt dagegen bei den farbigen Tafeln zur Photographie, über Porzellan, Postwertzeichen, Primitive Kunst und Renaissance.

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