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Der schwedische Runenstein

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Es gehört zum Zauber einer Wanderung durch Schweden, daß man unvermutet dem Runenstein begegnet. Einsam steht er an der Landstraße oder mitten im Acker oder am Waldrand. Sein bläulicher, vorn zur Fläche zubehauener Granit ist überwellt von den wechselnden Schatten des Birken- und Eschenlaubes, umstanden vom Dunkel des Nadelwaldes — immer aber einbezogen in die mütterliche Landschaft des Nordens.

Die Vorderseite ist erfüllt von den reichlichen Schlingen eines Ornaments: einer oder vieler in sich selbst verwickelter Schlangen, an denen man Köpfe mit mandelförmigen Augen, hervorgestreckte Beine mit Klauen oder einen aufgestellten Schwanz unterscheiden kann, in den sich ein Drachenmaul hineinbeißt. Das Bild, das erst bei genauerem Zusehen eine Gesetzlichkeit erkennen läßt, erweist sich entweder als Rahmen oder Träger eines Spruchbandes: zwischen zwei Linien verläuft es mit den Zeichen — Haken, Blitzen, Sternen Pfeilen, Kreuz- chen, Galgenkreuzen — der Runenschrift.

Die Schlingen verteilen sich rhythmisch über die Fläche, manchmal symmetrisch, meistens unsymmetrisch. Manchmal scheint es, als ob der Meister einen verzweifelten Versuch gemacht hätte, diese Verwicklung zu lösen, manchmal lebt eine barocke Leichtigkeit darin, die aus dem vollen schöpft. Merkwürdig sind die Tiere und Tierelemente des Ornaments. Man findet oft eine einzige Gestalt, das Runensteintier, als ein hohes trojanisches Pferd, eingeflochten in wildwucherndem Rankenwerk wie der Stein von Sala, dann wieder verwendet das Rankenwerk selbst souverän Tierelemente für sich. Sie erfüllen in ihm eine geometrische Funktion mit rhythmisch verteilten Schnauzen, Klauen, spiralförmigen Ansätzen von Schenkelknochen, die zu Vorder, und Hinterbeinen sich verlängern. Ein dynamischer Zug geht durch das unübersichtliche Ornamentgeflecht. Es gibt nichts Unähnlicheres als etwa das Muster eines persischen Teppichs, das mit Symmetrie und zahmer Wiederholung das Bild eines in sich ruhen-den Zustandes erzeugt. Hier aber ist alles in Bewegung, ja im Aufbruch, und manchmal glaubt man, vor einem Schlangennest zu stehen, aus dem, wie durch einen absichtlichen Tritt gereizt, die Reptilien hervorschießen.

Innerhalb dieses Durcheinander gibt es nur eine einzige Stelle der Ruhe, ein einziges Zeichen, das unberührt über dem Ge- woge schwebt wie ein Meeresstern: das Kreuz. Es hat freilich eine ungewöhnliche Form. Am nächsten kommt ihm eine Kombination des Johanniterkreuzes mit einem das Zentrum umrahmenden vierblättrigen Kleeblatt, das die unteren Teile der nach außen sich verbreiternden Kreuzbalken mit gehorsam-kindlichen Kurvenlinien vereinigt.

Die meisten Inschriften sind heute entziffert und bedeuten, daß ein Joger oder Efrid, ein Gunner, Ingjald, Illuge diesen Stein zur Erinnerung an einen toten Sigger oder Osten, Gunnars Mann oder Rodälfs Bruder haben errichten lassen. An den kurzen Bericht schließt sich oft die Bitte: „Gott möge seiner Seele helfen.“ Und dann folgt die Signierung des Meisters, die sich mit einem einleitenden „Aber“ ausweist: „Aber Äsmund hat den Stein bemeißelt.“ Statt Äsmund nennen sich auch andere: ödbärn etwa oder Värmund, Gylle, Arbjörn, Torfast, Askill, Ulf keil oder die berühmteren Livsten und öpir. Es gibt ungefähr 150 Namen dieser Kunst im Schweden des 11. Jahrhunderts.

„Einen Stein hat errichtet, der stehen kann,

Balle, der rote, über dem Bruder“ lautet eine der stolzen Inschriften, und der Rörebrostein in Smaland meldet:

„Dies Denkmal schuf Assar seinem Vater önd zu Ehren.

Von allen war er am wenigsten Frevler.

Gab den Armen, vergaß den Haß.

An seinen Gott der Gute glaubte.“

Man muß wissen, daß der Runenstein nichts Urgermanisches, sondern eine späte Einrichtung darstell. Zwar war es im Norden seit Jahrhunderten Brauch, Steine über Gräbern zu errichten, aber sie waren Felsenstücke ohne Inschrift: die Bautasteine. Erst vom Beginn des 11. Jahrhunderts an entwickelt sich der Runenstein als großes, den Menschen überragendes Denkmal und dauert bis zum Ende deä Jahrhunderts an. Er verschwindet, weil ihn der von der Kirche eingeführte Friedhof entbehrlich macht. Es gibt etwa zweitausend solcher Denkmäler in Schweden, davon die Hälfte in Uppland, der Provinz, deren Hauptstadt Upsala ist.

Es ist immer noch unenträtselt, was sich im Ornament des Runensteins verbirgt; man kann viele Elemente und viele Influenzen feststellen. Trotzdem bleibt die bestimmte Art der Anordnung etwas für den Norden Typisches, das sich mit nichts anderem vergleichen läßt und auch trotz vielen Variationen bei verschiedenen Meistern auf eine einheitliche Urform hinweist.

Daß es sich dabei nicht um eine zufällige Ausschmückung handeln kann, sondern um eine Art kultische Mitteilung, ist schon deshalb gewiß. Außerdem waren Runensteine Grabsteine, die man überhaupt gern mit Symbolen ausstattete. Schließlich kommt hinzu, daß die Kunst des Nordens zu dieser Zeit allein auf das Ornament beschränkt war und also in ihm die einzige Gelegenheit fand, sich auszusprechen.

Die Runensteinkultur ist tief mit einem historischen Ereignis verwachsen, das „Wi- kingertum“ heißt. Im neunten Jahrhundert sammeln sich in Dänemark, Schweden, Norwegen Organisationen von Freibeutern, die die Küsten Hollands, Englands, Irlands, Frankreichs überfallen und verheeren und im Süden bis Gibraltar und Afrika, im Osten bis Nowgorod, an die Wolga und das Kaiserrreich Byzanz Vordringen. Der Anstoß zu dieser spätesten und gewaltsamsten Völkerwanderung, vor welcher die christlichen Völker der Küstenstriche erzitterten, mögen Armut und Isolierung der nordischen Bauernkultur gewesen sein. Das Wikingertum ist ein verzweifelter Versudi, dem geschichtslosen Zustand zu entrinnen, der den Nordmenschen zwar an eine mütterliche Natur band, aber vom übrigen Europa fernhielt. Etwas von diesem Ringen wetterleuchtet noch in Peer Gynt9 Kampf gegen seine Mutter Äse oder in Strindbergs verzweifeltet Gegenwehr gegen mütterliche Übermacht, obzwar Ibsen und Strindberg Dichter der Muttersehnsucht sind. Immerhin: das aus Lust nach Beute sich entwickelnde Piratentum der Wikinger, das Gewalttaten von unerhörtem Maß auslöste — wahre Rasereien von Mord und Schändung —, gehört zu den antimütterlichen Manifestationen, zu den Orgien der Männ- lidikeit in der Weltgeschichte.

Der Runenstein hängt nun in gewisser Hinsicht damit zusammen. Vor seinem Auftauchen gab es Ja im Norden nichts, das sich auf das Dasein außerhalb des täglichen Lebens bezog: keine Schrift, die Geschichte in Büchern aufgezeichnet, keine Kunst, keine Plastik oder Architektur, die Denkmäler von Stein der Nachwelt hinterlassen hätte, sondern nur ein Kunsthandwerk, das sich in der Ornamentierung von Waffen und Gebrauchsdingen erschöpfte. Es war der Zustand des Naturbarbaren, dessen Stämme und großbäuerliche Fürsten einander bekämpften, ohne jemals die Einheit eines Reiches erreichen zu können.

In dem neuen künstlerischen Ausdruck und Willen, zu überdauern, der sich im Runenstein kundgibt, manifestiert sich nun ein ähnliches Erwachen wie in dem Aufbruch der Wikinger Skandinaviens. Beide Erscheinungen korrespondieren unzweifelhaft miteinander. Die Schlangen und Drachen der Ornamente entsprechen den Drachen der Wikingerschiffe, und es ist auch kein Zufall, daß das Osebergshiff, das 1903 in der Nähe von Oslo ausgegraben wurde und dessen herrliche Schnitzereien an die Tierornamentik der Runensteine erinnern, einer Wikingerkönigin Äsa gehört hat.

Zum erstenmal geschieht es im Norden, daß man das Andenken an Gefallene mit kurzen, aber feierlichen Worten der Nahwelt übergibt. So weisen manhe Runen- inshriften von shwedishen Bauerndörfern in große Historie. Der Stein von Kimstad erwähnt einen Justen, der sich wahrscheinlich an der Wikingerflotte von Gudmund Stigitanson und Olaf Tryggwasson beteiligte, die 991 in die Themse einlief. Der Stein von Lyhundra berihtet von einem Sven, der in Jütland starb, ehe er der Flotte von Knut dem Großen von Dänemark 1015 nah England folgen konnte: der Triumph der Wikinger über das Inselreih war dem shwedishen Bauernfürsten also niht vergönnt. Und der Stein von Ulunda erwähnt einen Horse, dessen Namen man auh in der Runenschrift des Piräuslöwen vermutet, der heute vor der Markuskirche Venedigs steht.

Oft auh läßt man künftige Geshlehter wissen, daß man für die Rettung der abgeschiedenen Seele einen Weg hat anlegen, eine dauerhafte Brücke hat bauen lassen. Diese Botshaften an die Nahwelt, die der Römer in klarer Antiqua dem Marmor einmeißelt, übergibt der zur Geshihte erwachte Nordländer seinem Granit und stattet sie mit dem Geschlinge der Shlangen und Drahen aus.

Der Runenstein enthält aber auh die Spuren des zweiten Aktes dieses historishen Dramas. Die Schildmauern der wikingischen Drahenshiffe mögen wohl für die heran- shwirrenden Pfeile der Verteidiger ebenso undurhdringbar gewesen sein wie die vereinigten zuhauenden Schwerter der Invasionstruppe unwiderstehlich und von einer solhen Schlagkraft,’ daß jede Gegenwehr shnell erliegen mußte. Die Sieger konnten dann wohl die Klöster Irlands und der englishen Inseln plündern, die Mönhe morden, die Nonnen shänden und sie ins Feuer werfen, schließlich dem Land vernidi- tende Steuern auferlegen. Aber: es waren doch nur Pyrrhussiege dieser blonden und rothaarigen Berserker. Mit dem Raubgut shlih sih etwas für sie selbst Gefährlihes ein. Das kam shon darin zum Ausdruck, daß die Beherrsher des Augenblicks ratlos waren, wenn es galt, ihre Taten auf die Menschheitsgeschichte zu beziehen. Die Runensteinmeister, die vor der neuen Aufgabe standen, gefallenen Wikingern ein Denkmal zu setzen, mußten erst nah Vorbildern 6uhen, um die Inschrift mit würdigen Zeidien zu versehen. Und diese Vorbilder fanden sie in den von irishen Mönchen gemalten Blättern der Evangelien- büher, die von den Räubern mitgebracht worden waren. Wir finden in der Tat auf vielen Runensteinen Entsprehungen zwischen ihren Ornamenten und denen von Initialen und Randleisten, womit die heiligen Matthäus, Johannes oder Symbole der Evangelisten eingerahmt waren. Besonders der Codex aureus, der, offenbar von Wikingern entführt, am Ende des 9. Jahrhunderts aber an Herzog Aelfred wieder verkauft und von diesem und seiner Gemahlin der Kathedrale von Canterbury gestiftet worden war, scheint als Vorbild gedient zu haben. Eine Art Vignette des Kodex — das einzelne Blatt befindet sih in der königlichen Bibliothek zu Stockholm — zeigt zwei von Ranken eingeflochtene Tiere.

Das war aber nur der Anfang der großen Wandlung. Als Nähstes folgte die Annahme des Kreuzes, das die Wikinger niht länger umgehen konnten, ohne sih selbst hoffnungslos von ihrer Umwelt zu isolieren: die Enkel der Piraten kehrten also als Christen zurück, und manhe Runenshrift meldet rühmend, daß der Tote „in Taufkleidern gestorben sei. Wikingerfürsten werden christliche Fürsten. Der Norweger Olaf Tryggwasson, ein Held der Sage, der sein Land christianisieren wollte und starb, ohne sein Ziel erreiht zu haben — er sprang ins Meer, als er sih bei Svolder von feindlihen Shiffen umgeben sah —, hatte als Wikinger begonnen. Olaf Haraldson — der Heilige —, der mit größerem Glück den Be- kehrungsversuh wiederholte und als der erste hristliche König und Märtyrer Norwegens gilt, hatte seine Jugend an einem englischen Hof verbradit.

Die irischen und englishen Missionäre folgen dieser politischen Strömung und sheinen sih auh um die Bildhauer des Nordens bemüht zu haben, wenn sie niht sogar selbst die Arbeit der Einmeißelung besorgten. Und so sind die Runensteine des 11. Jahrhunderts shon voll von Kreuzen, die in einer Art unberührten Zone oberhalb oder innerhalb des Schlangengetüm- mels schweben, das der Ausdruck einer noh ungebändigten Natur ist. Wir sehen das Kreuz, das an die Johanniterform erinnert, und das kleinere Kreuz, das einen Stiel an der Unterseite trägt und sih somit als Prozessionskreuz ausweist.

Es vollzieht sih also die geheimnisvolle Umkehr des großen Wikingeraufbruhs: der Norden öffnet sih dem Christentum. Der Järfstastein, den man auf 1050 datiert, enthält neben der Bitte an Christus auh eine an die Mutter Gottes für die Seele des toten Tjudmund: eine frühe Spur der Madonnenverehrung in Schweden.

So beugen sih die Enkel der Seeräuber und Eroberer, die sich von der Naturmutter befreit haben, vor einer neuen Mutter, um die sih shon vor Jahrhunderten die Völker des Südens, Ostens und Westens versammelt hatten.

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