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DER ZAUBERER DES FILMS

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Anfang der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts begann ein Naturwissenschafter, der Franzose Auguste Marey, die Phasen des Vogelflugs, später dann auch anderer animalischer und menschlicher Bewegungen mit Hilfe der Photographie festzuhalten und zu studieren. Er war der eigentliche Erfinder des Films, eines Mediums, das ungeheure Bedeutung in der Dokumentation, der Unterhaltungsindustrie und der Kunst erhalten hat. Die Brüder Lumière, die Ende 1895 mit ihrem Kinematographen zum erstenmal lebende Bilder vorführten, wurden von ihm protegiert. Sie verwendeten ihre Erfindung nur zur Reproduktion der Realität, das heißt, sie nahmen etwa einen fahrenden Wagen, einen laufenden Menschen und andere Szenen auf und projizierten sie dann. Nach fünf Jahren, mit Ende des 19. Jahrhunderts, flaute das anfänglich begeisterte Interesse für diese „lebenden Bilder“ ab, und die Brüder Lumière stellten ihre Filmproduktion wieder ein. Sie haben den Filmtypus des Dokumentarfilms geprägt, ihr letzter Film galt der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900.

In der denkwürdigen ersten Vorführung der „lebenden Bilder“ saß auch ein junger Mann aus besten Verhältnissen, der einige Jahre zuvor die Leitung des Familienunternehmens, einer Schuhfabrik, an seinen Bruder abgegeben und sich ganz einem ursprünglichen Hobby, der Zauberei, gewidmet hatte: Georges Méliès. Er leitete damals das Théâtre Robert Houdin, das er sieben Jahre zuvor erworben hatte, und war selbst sein eigener erster Illusionist. Er begriff sofort den Unterhaltungswert der neuen Erfindung und versuchte, eine der Maschinen Lumières anzukaufen. Von 1886 bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs stellte er etwa 500 Filme her. Man findet unter ihnen Vorläufer aller nur erdenklichen Gattungen des Films, so wie wir sie heute kennen. Er war es, der als erster erkannte, daß die Erfindung das Medium einer neuen Kunst werden konnte, nicht nur bloße Reproduktionsmöglichkeit. Und konsequent schöpfte er schon damals die Gestaltungsmöglichkeiten dieses neuen Mediums voll aus.

Dabei kam ihm seine vielseitige Begabung zustatten. Während seiner Studienzeit in England bildete er sich zu einem perfekten Amateurzauberer aus und lernte neben der Fingerfertigkeit auch eine andere wesentliche Voraussetzung des publikumsreifen Illusionisten: die vollendete Beherrschung der Mimik und Gestik. Die elterliche Fabrik, zu deren Leitung ihn die Eltern bestimmt hatten, rief zumindest das Interesse an der Mechanik und der Technik wach, wenn schon nicht am Kommerziellen, das er zeitlebens in der Manier eines Grandseigneurs vernachlässigte. Schließlich war er ein sehr guter Zeichner und begabter Karikaturist. Gemeinsam mit seinem Bruder gründete er zur Zeit der Dreyfus- Affäre eine satirische Zeitschrift, die ausschließlich dem Kampf gegen General Boulanger gewidmet war. Sie hieß „La Griffe“ und erschien nur so lang, als die Affäre Dreyfuß dauerte. Méliès signierte darin seine Zeichnungen mit „Gèo Smile“.

Das „Théâtre Robert Houdin“ war eine Art Varieté, dessen Programm vorwiegend aus illusionistischen und akrobatischen Nummern bestand. Bis 1914, als es des Krieges wegen geschlossen wurde, führte es Méliès mit großem Erfolg, unbeschadet des allmählich erlöschenden Interesses des Publikums an seinen Filmen, die er zunächst für sein Theater und später dann auch für Jahrmarktsschausteller und private Interessenten herstellte. Die „lebenden Bilder“ wechselten in seinem Theater mit illusionistischen und akrobatischen Nummern ab und hatten — es lag nahe — oft diese Nummern oder eine Verquickung aus beiden zum Thema. Die ersten Filme, 1896 hergestellt, hießen etwa „Une Partie des Cartes“ oder „Séance de Prestidigitation“ und waren 20 Meter lang. Das blieb die Standardlänge bis 1900, als Méliès dann dem Widerstand der Einkäufer zum Trotz längere Filme machte, in mehreren Rollen, die wiederum je 20 Meter lang waren. Er selbst zählte seine Produktion nach Nummern, eine Nummer entsprach einer Rolle. Sein Katalog enthielt bis zu dem Tag, an dem er die Produktion einstellen mußte, etwa 1600 Nummern, das sind 32.000 Meter. Wenn man die heutige Spielfilmlänge einer kurzen Rechnung zugrunde legt, entspricht das etwa 10 bis 12 Spielfilmen, in einer Zeit von insgesamt 18 Jahren hergestellt — eine beachtliche Leistung auch für einen heutigen Regisseur. Aber Georges Méliès war mehr als das. Damit das richtige Bild seiner Leistung entsteht, muß man nicht nur wissen, wie damals Filme gemacht wurden, sondern auch, wie Méliès selbst sie machte.

Die Mehrzahl der 78 Filme, die Méliès im ersten Produktionsjahr für sein „Théâtre Robert Houdin“ herstellte, waren ähnlich wie die „lebenden Bilder“ der Brüder Lumière im westlichen Dokumentarfilme, mit Titeln wie „Arrivée d’un Train Gare de Vincennes“ oder „Panorama du Havre“ zeigen. Nachdem sich die Brüder Lumière geweigert hatten, ihm einen ihrer Apparate zu verkaufen, holte sich Méliès ein ähnliches Gerät, „Bioskop“ genannt, aus England, führte damit zunächst Filme vom Erfinder des Geräts, William Paul, und von Edison vor, und begann die Produktion etwas später mit einer nach dem Prinzip des „Bioskops“ konstruierten Kamera. „Le Manoir du Diable“, im ersten Produktionsjahr entstanden, zeigte bereits, was die größte Leistung von Méliès war: er führte Handlung, Inszenierung mit Schauspielern und Dekor in den Film ein.

Méliès komponierte seine Filme Bild für Bild. Er vereinigte dabei Funktionen, die heute streng getrennt sind, in einer Person, seiner eigenen: er war Produzent, Techniker, Filmarchitekt, Kostümbildner, Regisseur und Hauptdarsteller zugleich. In Montreuil baute er ein glasüberdachtes Atelier nach eigenem Entwurf. Die einzige Lichtquelle war damals die Sonne und die Aufnahme selbst vom Wetter abhängig. Die Dekoration bestand teils aus gemaltem Hintergrund und teils aus Bauten aus Papiermache, also Filmarchitektur im heutigen Sinn. Die Darsteller suchte sich Melies hauptsächlich unter Varietekünstlern und Akrobaten aus. Er verlangte von ihnen ein hohes Maß von mimischer Ausdrucksfähigkeit und disziplinierter Bewegung, dafür bezahlte er sie, heutige Filmgepflogenheiten vorwegnehmend, überdurchschnittlich gut. Er entwarf die Bauten und die Maschinen, die notwendig waren, seine einfallsreichen Tricks zu verwirklichen, und überdies zeichnete er eigenhändig die Kulissen. Seine Entwürfe sind heute noch erhalten und geben einen anschaulichen Eindruck von seiner Arbeitsweise. Er stellte bereits auch Farbfilme her. Dabei kolorierte er sorgfältig Bild für Bild: Das Resultat ist heute noch wegen der leuchtenden in ihrer Delikatesse von heutigen Farbverfahren weit entfernten Farben bemerkenswert harmonisch und eindrucksvoll. Es nimmt nicht wunder, daß Melies in der Zeit seiner Filmproduktion einen Arbeitstag hatte, der demjenigen der sprichwörtlichen Filmgewaltigen von heute in nichts nachsteht: Er stand um sechs Uhr auf, war um sieben bereits in seinem Atelier, wo er alles Notwendige für die Freitag und Samstag stattfindenden Aufnahmen vorbereitete, arbeitete, oft bei großer Hitze, die unter dem Glasdach entstand, bis fünf Uhr nachmittags, fuhr nach Paris, wo er in seinem Büro bis sieben Besucher und Kunden empfing, aß zu Abend und begab sich in sein Theater, wo er das Programm beaufsichtigte und selbst auftrat. Die Erholung sonn- und feiertags bestand aus einer Nachmittagsmatinee, etlichen Kinovorstellungen und der gewohnten Abendvorstellung.

Seine Filme waren sehr bald auf der ganzen Welt erfolgreich und äußerst beliebt. Edison, Lämmle und Lubin kopierten sie ohne seine Zustimmung in Amerika und verkauften Hunderte von Kopien. Da der finanzielle Ertrag, es gab noch kein Verleihsystem, ausschließlich aus dem Kopienverkauf resultierte, war die Folge ein schwerer Verlust für Méliès. Um ihn aufzufangen, gründete er eine Filiale in New York und trat schließlich dem Film trust von Edison bei, dem es hauptsächlich darum ging, seine Vor- führapparate zu verkaufen. Anfang dieses Jahrhunderts schwand das Publikumsinteresse an dem Genre, das Méliès besonders pflegte, den sogenannten Feerien, aber Méliès setzte seine Produktion allen geschäftlichen Erwägungen zum Trotz fort. 1909 beschloß ein Kongreß der Filmhersteller ein Verkaufsverbot und erklärte das Verleihsystem für verbindlich. Méliès war Präsident dieses Kongresses, dessen Maßnahme ihn hart traf, da er nicht rechtzeitig ein Verleihsystem aufgebaut hatte und nun zu kapitalschwach war. Auf diesem Kongreß setzte Méliès auch eine einheitliche Perforierung der Filme durch. Die einzelnen Hersteller der Vorführgeräte konnten zwar nicht mehr ihr Geschäft durch verschieden perforierte Filme fördern, aber erst durch diese Normierung wurde eine Internationalisierung des Films möglich.

Méliès nahm überhaupt die meisten Erscheinungsformen des heutigen Films als Kunst und als Geschäft vorweg. Er brachte die ersten Opernverfilmungen heraus, seine „Affaire Dreyfus“ war der erste Problemfilm. Er war der erste Filmproduzent, dessen Produktionsfirma „Star-Film Gèo Méliès“ in ihrer Organisation das Muster aller späteren Filmproduktionen war. Viele der heute verwendeten Filmtricks gehen auf ihn zurück : der Stopptrick zum Beispiel,

ohne den die Grotesken der Stummfilmkomiker der zwanziger Jahre nicht möglich wären, die Doppel- und Mehrfachbelichtung, die er trotz der mangelhaften technischen Mittel zu hoher Vollkommenheit brachte, und andere, die zum Teil heute vergessen sind. Seine Zeitgenossen wußten wohl, wie bedeutend Melies war. Als er schließlich 1934 auf Betreiben seiner Gläubiger seinen gesamten Besitz versteigern lassen mußte und seine Negative verbrannte, war der geschäftliche Ruin die Folge einiger Faktoren: Die schwindende Beliebtheit der Feerien, Melies’ Weigerung, daraus die kommerziellen Konsequenzen zu ziehen, seine finanzielle Unbekümmertheit, seine unbestrittene Vorliebe für eine verschwenderische Lebensführung, eine mit allen Mitteln kämpfende Konkurrenz — übrigens damals wie heute, sowie die ewigen Filmkrisen, ein auffälliges Merkmal der Filmindustrie schließlich auch die Auswirkungen des ersten Weltkrieges.

Im Jahre 1925 heiratete Méliès, nachdem seine erste Frau, eine Fabrikantentochter, gestorben war, die Schauspielerin Jehanne d’Alcy, Hauptdarstellerin vieler seiner Filme. Sie besaß am Bahnhof Montparnasse einen Kiosk für Spielzeug und Süßigkeiten, und bis 1932 verkaufte dort Méliès diese Waren. 1928 wurde er von Journalisten wiederentdeckt, die Surrealisten reklamierten ihn als ihren Vorfahren für sich, ein Jahr später fand man einige Kopien seiner Filme und führte sie vor, 1931 erhielt er das Kreuz der Ehrenlegion. Alle Ehrungen bewahrten ihn nicht davor, die letzten sechs Jahre in einem Altersheim verbringen zu müssen. Er starb 1938 im Heim für Filmschaffende Château d’Orly. Louis Lumière hat ihn anläßlich seiner Ehrung durch die Verleihung des Kreuzes der Ehrenlegion den „créateur du spectacle cinématographique“ genannt. Zeitlebens wußte er genau, daß er das und noch mehr war — nämlich der erste Filmkünstler, der erste, der die künstlerischen Möglichkeiten des neuen Mediums begriffen und sie auch in seinen Filmen so verwirklicht hatte, daß sie heute wie damals von einer künstlerischen Überzeugungskraft sondergleichen sind.

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