7133869-1997_38_24.jpg
Digital In Arbeit

Die Dialektik von Vernunft und Wahnsinn

Werbung
Werbung
Werbung

In Stein gemeißelt liegt eine männliche Figur mit geballten Fäusten gefesselt auf einer Matratze. Der Kopf ist kahlgeschoren, der Mund verzerrt, die Augen aufgerissen. Die Darstellung des Bildhauers Caius Gabriel Cibber, die sensationelle Berühmtheit erlangte, zeugt davon, wie man 1676 den „Geisteskranken” sah , vor allem aber, wie man ihn behandelte. Der Gefesselte erinnert daran, daß es erst zwei Jahrhunderte her ist, seit man den „Verrückten” von seinen Ketten befreite.

Die Plastik Cibbers ist eine von zwei Skulpturen - sie symbolisieren die beiden Antipoden der Schizophrenie - die einst den Eingang des Beth-lem-Hospitals, eines der ältesten, psychiatrischen Krankenhäuser der Welt, flankierten. Die formal von Michelangelos Medici-Grabmal-Figu-ren „Tag” und „Nacht” beeinflußten Skulpturen bilden den Auftakt einer Schau mit 350 Exponaten aus vier Jahrhunderten im Kunstforum der Bank Austria, die sich dem schon lange diskutierten und doch immer aufs neue spannendem Thema „Kunst und Wahn” (siehe Ft'RCHK 36/1997) widmet. Den vagen umgangsprachlichen Titel habe man bewußt gewählt, so der Kunsthistoriker und 1 lochschulprofessor Peter Gorsen, der gemeinsam mit Ingried Brugger und Klaus Albrecht Schröder vom Kunstforum die Ausstellung konzipiert hat: „Wir wollen die allgemeine 1 )ialektik von Vernunft und Wahnsinn zeigen, in der vieles Platz hat.” Man entschied sich für ein offenes Konzept, das in 16 Abteilungen das wechselseitige Verhältnis möglichst vielfältig beleuchtet.

Mit Cibbers Skulpturen und dem Rubens-Bild „Die Wunder des heiligen Ignatius von Loyola” wirft die Schau im ersten Raum zunächst einen Blick in die Vergangenheit bis zu den Anfängen der neuzeitlichen Auseinandersetzung zwischen Kunst und psychiatrischen 'Themen im 16. Jahrhundert, als man mit der „Wunderheilung von Besessenen” den Geisteskranken auf die Leinwand bannte. Seit der Aufklärung wandelte sich der Blick: Statt ihn zu dämonisieren nähert man sich nun dem „Irren” in einfühlsamen Darstellungen an. Über das befremdende Bild „Lachender Bursche mit Orangenblüte” des spanischen Malers Antonio Puga und Theodore Gericaults Porträt „Der verrückte Kindesentführer” gelangt man zu Bildern aus dem 19. Jahrhundert, in denen Irrenhaus-Szenen dargestellt werden - etwa von Wilhelm von Kaulbach oder Telemaco Signorini. Abschluß der Darstellungen von Wahnsinnigen bildet die Dokumentation des französischen Arztes Jean Martin Charcot, der an der Pariser Salpetriere die Körpersprache der Geisteskranken fotografisch festhielt. Charcots Buch sei entscheidend gewesen - so eine These der Schau - für das Aufgreifen körpersprachlicher und mimischer Symptomatik durch Künstler des 20. Jahrhunderts, die darin immer wieder eine Befreiung von der konventionalisierten Körpersprache sahen. Als Beispiele zeigt man hier etwa Selbstporträts Egon Schieies oder Arnulf Bainers Übermalungen von Grimassenfotos.

Der umfangreichere Hauptteil der Ausstellung gilt auch unserem Jahrhundert. Hatten sich die deutschen Expressionisten noch mit dem Geisteskranken als Außenseiter der Gesellschaft identifiziert, so beginnt seit der epochemachenden Publikation des deutschen Arztes und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn „Bildnerei der Geisteskran-ken”(1922) die Befruchtung der zeitgenössischen Kunst durch die Beschäftigung mit psychotischer Kunst selbst. Es sind unterschiedliche Aspekte, die Künstler an den Arbeiten der Prinzhorn-Sammlung faszinierten: Für Pablo Picasso war es die Deformation und Verschiebung einzelner Körperteile, für Salvador Dali, Max Ernst und Francis Picabia die psychotischen Vexierbilder und Zwit-terwesen. Die Beeinflussung scheint durch die direkte Gegenüberstellung im Kunstforum oft frappant. Man staunt nicht wenig, wenn man Picasso-Blätter neben ähnlichen Zeichnungen des Schizophrenen Ernst Jo-sephson hängen sieht, von dem Picasso auch tatsächlich inspiriert worden sein soll. Oder wenn die faszinierenden Skulpturen des psychotischen Schnitzers Karl Genzel im räumlichen Nebeneinander in einen Dialog mit Max Ernst-Plastiken treten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Jean Dubuffet, der erneut auf die Kunst Geisteskranker zurückgriff. Ihn interessierte an der „Art brut” der „rohe, unverfälschte Ausdruck, geboren aus fieberhaften Momenten” in den Werken psychisch Erkrankter, die durch die „Künstlerkultur keinen Schaden erlitten haben”.

Ein weiteres Anliegen der Ausstellungsmacher ist, zu veranschaulichen, wie unterschiedlich sich der Zusammenhang von künstlerischem Ausdruck und Psychose gestalten kann. Kunstschaffende ohne akademische Ausbildung, die überhaupt erst nach der Erkrankung künstlerisch tätig wurden, sind durch Adolf Wölfli oder Friedrich Schröder-Sonnenstern vertreten. Für ausgebildete Künstler, deren Stil sich in und nach der Psychose gewandelt hat, stehen Franz Xaver Messerschmidt, Antonin Artaud und Louis Soutter.

Im letzten Teil der Ausstellung geht es um eine dritte Welle der Auseinandersetzung mit „zustandsge-bundener Kunst” in den sechziger Jahren. Hauptaugenmerk gilt hier Österreich: Bilder von Peter Pongratz, Friedensreich Hundertwasser und Franz Ringel werden mit Arbeiten von August Walla, Oswald Tschirt-ner, Johann Hauser aus dem Gugginger „Haus der Künstler” konfrontiert. Allerdings fragt man sich im letzten Saal, warum die Präsentation mit Exponaten aus den siebziger Jahren endet. Oder ist der gegenwärtigen Kunst die Beziehung zum Wahn abhanden gekommen?

Es gehört zu den Stärken der Ausstellung, daß sie ausformulierte Antworten unterläßt und das höchst komplexe, grenzüberschreitende Thema offen hält: Mehr wird visualisiert als theoretisch reflektiert. Wem dies zu unergiebig ist, dem bleibt ja auf die vielen unbeantworteten Fragen zu Kunst und Wahn noch der ausführliche Katalog.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung