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Die Erlösergruppe vonTosters

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Das Land Vor dem Arlberg besitzt eine Vielzahl bedeutender und schöner Bildwerke der schwäbischen Kunst jener Stilstufe, auf der sich die „Klassik“ des Schaffens dieses Volksstammes zu Weltgeltung erhob: der späten Gotik der letzten Jahre des 15. Jahrhunderts, jener Periode, in welcher die als Handelszentrum blühende Reichsstadt Ulm eine kulturelle Vormachtstellung nicht allein innerhalb Schwabens, sondern bis in die Schweiz und nach Oesterreich hin, über die Alpen hinweg bis nach Südtirol und Graubünden, innehatte und Altarwerke, die von seinen Bildhauern und Malern geschaffen wurden, planmäßig auf den Straßen seines Fernhandels exportierte.

Das wertvollste, zugleich aber auch mindest bekannte Hauptwerk der Ulmer Kunst im „Ländle" ist eine Gruppe dreier nahezu lebensgroßer, mit Liebe aus weichem Lindenholz geschnitzter Gestalten, die sich der Erinnerung einprägen: sie stehen auf einem Nebenaltar der Dorfkirche von Tosters bei Feldkirch: Der von den Wunden der Passion bedeckte hin- sinkendf Leib des Erlösers wird von Gottvater auf der einen, von Maria auf der anderen Seite liebevoll gestützt und den Gläubigen als Sinnbild der Ueberwindung des Todes zu mahnender Schau vor Augen gestellt; „Ecce Salvator!“ Diese drei Figuren sind leise gegeneinander kontrastiert: Gegenüber den massigen, von verhaltenem Pathos erfüllten seitlichen Gewandfiguren erscheint der fast hüllenlose Leib des Erlösers doppelt schlank und bloß, weil er sich längs seines ganzen Umrisses hell von dem dunklen Hintergründe der einstigen Altarschreinrückwand abhebt und nicht fest auf dem Boden steht, sondern wie zusammenknickend sich mit einem Fuße auf ein halbkugeliges Gebilde (Sinnbild der Erdkugel?) stützt, hinter dem der andere Fuß verborgen bleibt. Leise Abweichungen der Körperachse von der Lotrechten vervollständigen den Eindruck eines niedersinkenden Leibes. Sparsam, aber wirkungsvoll sind die seelischen Akzente gesetzt: Das leidvolle Angesicht Christi scheint vom Tode überschattet; furchtbarer Ernst spricht aus den Zügen, den weit offenen Augen Gottvaters; in ihrem Mit- Leiden scheint Maria der Gegenwart entrückt. Mit überlegener Kompositionskunst ist jede Wendung der Köpfe, sind die von den erschlafften Heilandsarmen geschaffenen Querverbindungen zwischen den Gestalten und die unvergeßlichen Begegnungen der Hände gebildet. Dank einer kürzlich vollendeten musterhaften Restaurierung können wir die Feinheiten der plastischen Durchbildung ohne jede verhüllende (spätere?) Fassung bewundern; doch verschwindet der Reichtum naturalistischer Details hinter der Ausdrucksfülle des Ganzen.

Diese Schaustellung der Heilandsleiden entspricht dem Geiste des 15. Jahrhunderts. Schon in dessen Frühzeit hatte die deutsche Plastik des weichen Stils die Halbfigur des Schmerzensmannes, des „Erbärmdeheilands als die Quintessenz aller Passionsdarstellungen geschaffen; Wien (Stephansdom) und Wiener Neustadt besitzen einprägsame Steinplastiken dieses Typus, meisterliche Schöpfungen wahrscheinlich schwäbischer Bildner. Ein Menschenalter später entnahm Schwabens Malerei der Kunst Venedigs die reichere, lyrischere Darstellungsform der „Engelpietä“, des halb aus dem Grabe emporragenden, von seitwärts stehenden Engelknaben gehaltenen und beklagten Erlösers; sie entwickelte diese Form des Andachtsbildes zu der Darstellung des toten, in halber Figur erscheinenden Heilands zwischen Maria und Johannes fort; München besitzt aus der Nachfolge Hans Multschers eine solche 1457 gemalte Pietä in f Io1’

Trotz dieser Vorstufen war die geistige und formale Konzeption der Freifigurengruppe in To ters eine gewaltige, eine revolutionäre Tat. Durch sie verschmolz die Darstellungsform der

Pietä (Heilandsklage) mit jener des Gnadenstuhls, die namentlich an norddeutschen Altären Gottvater thronend bildet, wie Er den am Kreuze hangenden oder toten Sohn auf Seinen Knien ruhend den Betern vor Augen hält. Um 1485 wagte ein führender schwäbischer Bildhauer mit der Gruppe von Tosters ein Thema, das bisher auch in Gemälden bloß in Halbfiguren gebildet worden war, in fast lebensgroßen, frei im Raume agierenden Gestalten von starker Gefühlsbetonung mit suggestiver Lebensnahe zu verkörpern: eine künstlerische Tat der schwäbischen Klassik, mit welcher das religiöse Symbol — wahrscheinlich auf Grund von Anregungen durch Passionsspiele oder geistliche Dichtung — ins Sinnfällige transponiert und ins Monumentale erhoben wurde.

Das Kunstwerk von Tosters läßt sich eindeutig dem Ulmer Bildhauer Michel Erhart zuweisen, von dem das Museum in Augsburg einen gesicherten lebensgroßen Kruzifixus verwahrt, dessen sterbend sinkendes Haupt mit dem Christuskopf von Tosters so weitgehend übereinstimmt, daß jeder Zweifel an der Gleichheit der Künstler hinfällig wird. Diesem großen lllmer Meister, dem Vater Gregor Erharts, wurde von Feulner auch die aus Ravensburg stammende Schutzmantelmadonna des Deutschen Museums in Berlin (1480) zugewiesen: unter ihrem Mantel erscheint eine kniende Matrone, deren esicJjtryo lią mit jenen , Marias ,in Gruppe von Tosters übereinstimmt. Damit erhält deren Zuschreibung an Michael Erhart eine weitere Bekräftigung.. Dieser Meister hat mehrr fach für Oesterreich gearbeitet: schon 193 8 fand der Verfasser in Lassing (Oberes Ennstal) eine von Erhart stammende Holzfigur der heiligen Maria Magdalena, die ins Grazer Museum gekommen ist. Wenn die Gruppe von Tosters die hergebrachte intime Form der Heilandsklage (Pietä) ins Monumentale und Repräsentative erhebt und damit im Sinne der Renaissance um prägt, so muß diese neue Form in der Renaissanceplastik Schwabens Nachfolge gefunden haben; und tatsächlich läßt sich das bedeutendste Renaissancebildwerk Schwabens, die berühmte Freifigurengruppe der „Engelpietä“ auf dem Hochaltar der Fugger-Kapelle zu Sankt Anna in Augsburg, das um 1515 entstandene Hauptwerk des Hans Daucher (Schwager des Gregor Erhart) nur von der Gruppe in Tosters ableiten. Daucher hat, von italienischen Anregungen ermutigt, die Form einer Gruppe von drei nebeneinander stehenden Figuren aus der bergenden Enge des Altarschreins gelöst und in renaissancehafter Raumfreiheit auf eine reliefgeschmückte Altarmensa gestellt. Zur statischen Verfestigung der Mittelfigur, die in Tosters labil wirkt, tritt ein lorbeerbekränzter Engel hinter sie, der den sinkenden Heilandsleib emporhält.

Wenn die deutsche Kunstgeschichte, der die Gruppe von Tosters bis vor kurzem unbekannt blieb, die Augsburger Engelpietä auf italienische Vorbilder zurückführte, ja W. Pinder sie einem italienischen Bildhauer zuschrieb, so drückt sich in diesem Fehlurteil die ratlose Suche nach der notwendigen Vorstufe zu einem Hauptwerke der nordischen Renaissance aus, das bisher rätselhaft isoliert, kunstgeschichtlich wurzellos und daher fragwürdig erschien. Schon 1952 aber schrieb Norbert Lieb in genialer Klarsichtigkeit in seinem Buche „Die Fugger und die Kunst', daß „die ikonographische Gestaltung des Augsburger Werkes in der mittelalterlich-mitteleuropäischen Ueberlieferung wurzelt” und von der schwäbischen Altarschreinskulptur geschichtlich abzuleiten sei. Heute wissen wir, daß seine Vorform die Gruppe von Tosters ist. Mit dieser Feststellung ist deren Rang als bahnbrechende künstlerische Schöpfung der schwäbischen Spätgotik umschrieben.

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