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Die geistige Idee

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Das Motto „Anbruch unseres Jahrhunderts — Kunst und Kultur nach der Jahrhundertwende“ steht als Leitsatz über der Auswahl der Veranstaltungen, Konzerte und Aufführungen, die Wien in der Zeit vom 23. Mai bis 21. Juni zu bieten hat.

„Für Festwochen in einer Großstadt gibt es nur eine einzige künstlerische und moralische Berechtigung: die geistige Idee!“

Dieser Grundsatz von Dr. Egon Hilbert, Intendant der Wiener Festwochen 1964, ist dazu angetan, das jährliche Wiener Kulturfest aus der Fülle anderer „Festspiele“ hervorzuheben. Die „geistige Idee“ dieser Wochen zeigt sich in einem Bekenntnis zur künstlerischen Vergangenheit, einer Begegnung mit der Gegenwart und als Synthese davon: einer Brücke zur Zukunft.

Dem Anbruch unseres Jahrhunderts gab gerade Wien die wichtigsten Impulse. Die moderne Seelenanalyse Sigmund Freuds, das funktionelle, ornamentlose Bauen von Adolf Loos, die revolutionäre Malerei Oskar Kokoschkas entstammten demselben radikalen Willen zur Revision des Denkprozesses, der sich später in der Philosophie des Wiener Kreises um Moritz Schlick und Rudolf Car-nap manifestierte. Das Wien im ersten Viertel unseres Jahrhunderts war wahrhaft ein Zentrum schöpferischer Geister und überragender Talente.

Mit Richard Strauss begann eine neue Ära in der Musik, die ihre revolutionären Akzente jedoch erst durch Arnold Schönberg und seine Schüler, Alban Berg und Anton von Webern, erhielt. Ihrer „Neuen Musik“ lag schon jenes „Unbehagen an der Kultur“ zugrunde, das dem wachgewordenen Willen zur Revision aller ästhetischen und geistigen Konventionen entsprang, die sich als unveränderliche Gesetze kostümiert und so die Machtpositionen im Reich der Musik wie auch der anderen Künste usurpiert hatten.

Das soziale Gefüge der Welt hatte bereits seine ersten Sprünge bekommen, und es war klar, daß die Hierarchie der Gesellschaft in der bisherigen Form nicht mehr lange bestehen bleiben konnte. Gerhart Hauptmanns „Weber“ war das große Werk der sozialen Anklage. Die Probleme der Triebe, der Seelen in ihrer Einsamkeit wurden von der Bühne her zur Diskussion gestellt. Fragen der Schuld am Scheitern der menschlichen Existenzen und, nicht zuletzt, die Entthronung des Heldenmythos waren die Themen der

Dramatiker des jungen 20. Jahrhunderts, in denen sich bereits eine Vorahnung der bevorstehenden Weltkatastrophe zeigte.

Der Rufer in der Wüste, das „Gewissen Wiens“ jedoch war Karl Kraus, der in seinem Hauptwerk „Die letzten Tage der Menschheit“ in einer wahren Kassandra-Vision das Ende der Epoche darlegte.

Die Wiener Festwochen 1964 bringen einen Querschnitt des künstlerischen Schaffens dieser schöpferischen Zeit unserer Stadt. Außerdem fällt in das heurige Jahr auch der 100. Geburtstag von Richard Strauss.

Im Theater an der Wien inszeniert Rudolf Hartmann die wenig bekannte Strauss-Oper „Daphne“, und Hans Hotter bringt in seinem Liederabend fünf Lieder aus dem Nachlaß von Richard Strauss zur Uraufführung. Im Theater an der Wien gelangt auch zum erstenmal die szenische Darstellung der „Letzten Tage der Menschheit“ in einer Bühnenfassung für einen Abend von Heinrich Fischer und Leopold Lindtberg zur Aufführung, die eine Kultursensation zu werden verspricht.

Ein besonderes Festprogramm hat die Staatsoper geplant: Neben Wagner, Verdi, Mozart und Puccini ist Richard Strauss mit fünf Opern vertreten, „Capriccio“, „Frau ohne Schatten“, „Intermezzo“, „Rosenkavalier“ und „Arabella“.

Auf dem Gebiet des Schauspiels finden neben der Karl-Kraus-Erstaufführung Neuinszenierungen von Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“ (Burgtheater), Strind-bergs „Nach Damaskus“ (Akademietheater) sowie Wedekinds „König Nicolo“ (Volkstheater) und Arthur Schnitzlers Einakter „Lebendige Stunden“, „Die Gefährtin“ und „Komtesse Mizzi“ (JosefStadt) statt.

Beinah unübersehbar ist das Konzertprogramm! Zu Gast sind die Warschauer Philharmoniker, das Bayerische Rundfunkorchester, die Prager Philharmoniker und das RAI-Orchester Turin.

Die Ausstellung „Wien um 1900“ in der Secession, im 1. Stock des Künstlerhauses und im Historischen Museum der Stadt Wien, die Richard-Strauss-Ausstellung in der österreichischen Nationalbibliothek und zahlreiche kulturelle Veranstaltungen in den einzelnen Wiener Gemeindebezirken ergänzen das große Festwochen-Projekt, das bestrebt ist, allen — wenn schon nicht alles, so doch manchen vieles zu bieten.

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