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Die größte Schau Europas

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Das Wiener Künstlerhaus hat sich für drei Monate in ein Museum verwandelt. In ein sehr lebendiges Museum. Vom 20. September bis Mitte Dezember findet hier die „Europäische Theaterausstellung 1955“ statt; die größte Ausstellung, die Wien in diesem Jahre zu sehen bekommt und zugleicn eine der bedeutendsten Ausstellungen Europas.

Die „Europäische Theaterausstellung“ hat eine interessante Vorgeschichte, die es. wert ist, erzählt zu werden: Im Jahre 1892 hat der Wiener Theater-forscher und damalige Direktor der Wiener Stadtbibliothek, Karl Glossy, eine große historische „Internationale Theaterausstellung“ in der Rotunde veranstaltet. Ihr Katalog gab Generationen von Theaterhistorikern Quellenmaterial. Die Ausstellung blieb in ihrer epochemachenden Bedeutung die einzige dieser Art. Den gesellschaftlichen Rahmen gestaltete damals die Fürstin Pauline Metternich, der ihre Tochter Clementine zur Seite stand. Die Eindrücke, die die junge Clementine Metternich hier empfing, blieben ihr unauslöschlich in Erinnerung; die heute 85jährige Dame, die auf einem Schloß in Westdeutschland lebt, regte eine neue Theaterausstellung für die Villa Hügel in' Essen an. „Villa Hügel e. V.“ ist eine Stiftung der Ruhrindustrie. Sie griff die Anregung auf. Die Vorbereitungen für eine neue internationale Theaterausstellung nach dem Wiener Vorbild von 1892 begannen. Die wissenschaftliche Vorbereitung wurde dem Institut für Theaterwissenschaft an der Wiener Universität übertragen. Als sich aber dann für Villa Hügel zeitliche Schwierigkeiten ergaben, schloß das österreichische Unterrichtsministerium mit dem Villa Hügel e. V. ein Abkommen, demzufolge die „Europäische Theaterausstellung 1955“ anläßlich der Wiedereröffnung des Burgtheaters und der Staatsoper auf dem Ring zur vorgesehenen Zeit in Wien stattfinden sollte. Damit hat die alte, neue Theaterstadt Wien nach 63 Jahren wieder eine große Theaterausstellung.

Die Ausstellung, deren wissenschaftliche Leitung in den Händen von Univ.-Prof. Dr. Heinz Kindermann (Institut für Theaterwissenschaft) und Doktor Franz Hadamowsky (Theatersammlung der Oesterreichischen Nationalbibliothck), und deren künstlerische Gestaltung in den Händen von Professor Arch. Clemens Holzmeister lag, ist eine Ausstellung der Superlative geworden.

Die Ausstellung erstreckt sich über 36 Säle. Zur Unterbringung eines zusätzlichen großen Saales ist im Wiener Künstlerhaus an seiner rechten Seite sogar ein neues Stockwerk eingezogen worden. Jeder dieser Säle birgt etwa 100 bis 400 Objekte. 380 Leihgeber aus 21 Ländern Europas stellten ihre Objekte zur Verfügung; Sammlungen, Museen, Institute, Bibliotheken, berühmte Theater und Privatsammler von Island bis zur Türkei und von London bis Moskau, von der Vatikanischen Bibliothek bis zum Louvre, vertrauten ihre Schätze der Ausstellung an; allein Rußland schickte soviel Material, daß nur der zehnte Teil dann aufgestellt werden konnte. Schon die räumliche Begrenzung ließ die Veranstalter die

Ausstellung auf Europa beschränken. Eine Ausstellung des Welttheaters hätte auch das Gelände einer Weltausstellung beansprucht. 180 Experten standen mit künstlerischem und wissenschaftlichem Rat zur Seite.

Schon der Katalog zur Ausstellung ist ein umfangreiches Buch geworden, auch er bietet reiches Quellenmateria! in seiner inzwischen vergriffenen ersten Auflage enthält er 370 Seiten und etwa £0 Abbildungen auf 64 Bildtafeln: dabei fehlt dieser ersten Auflage noch das vollständige Bilderverzeichnis und das Verzeichnis des russischen Theaters. Dafür führte er aber bei den einzelnen Sälen eine Reihe von Objekten auf, die dann in der endgültigen Aufstellung keinen Platz mehr fanden ...

Der erste Eindruck ist verwirrend. Eine Fülle von Büchern, Photos. Materialien, Gemälden, Puppen, Vasenbildern, Stichen. Handschriften, Requisiten, Büsten, Schaubildern, Masken, Kostümen, Bühnen-figuren empfängt einen, und es bedarf einer Weile, bis man sich — an Hand des Kataloges — ein Bild machen kann. Dann freilich erscheint die Ausstellung sinnvoll gegliedert. Freilich wird man Tage brauchen (die Ausstellung ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, Sonntag sogar ab 9 Uhr), um sich ganz in ihr zurechtgefunden und alles gesehen zu haben.

Ein Bericht über die Ausstellung müßte eigentlich eine umfassende Geschichte des Theaters sein. Der erste Saal ist der Magie der Maske gewidmet. Dss Urtheater Europas ist das brauchmäßige Maskenspiel der Laien. Der zweite Saal gehört dem antiken Theater in zwei Jahrtausenden. Hier zeigt sich am klarsten das Ausstellungsprinzip der Veranstalter: nicht nur das antike Theater, wie es bei den Griechen und Römern gespielt wurde, wird gezeigt, sondern wie es lebendig blieb und weiterwirkte bis heute. Es wird dokumentiert, wie die klassische Dramen- und Motivenwelt in verschiedenen Epochen weiterlebte und in welchen Verwandlungen es erschien. Heute leben wir in einer Zeit, in der sich eine neue Besinnung auf die Welt des Mythischen und Archetypischen abzuzeichnen beginnt. — Der dritte und vierte Saal gehören dem religiösen Theater vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Dann folgt das Renaissancetheater, die Pforte zum europäischen Theater der Neuzeit, das Barocktheater, die Com-media dell'Arte, das österreichische Volkstheater. Im zehnten Saal stehen einander Comedie francaise und Burgtheater gegenüber. Dann folgt eine Ueberschau über das englische Theater von der Shakespeare-Zeit bis zum Expressionismus, ein Saal Bühnentechnik und Theaterorganisation, eine Uebersicht über die Entwicklung des europäischen Bühnenkostüms, der unter anderem Puppen mit Kostiimnachbildungen enthält, die auch die Gebärden ihrer Zeit zeigen. Ein folgender Saal ist der europäischen Schauspielkunst der Gegenwart gewidmet, ein anderer den europäischen Festspielen, weitere der Pariser und Florentiner Oper, der Mailänder Scala, dem europäischen Ballett, den Puppenspielen, dein Publikum und den Berufsverbänden, lieber jeden Saal könnte man ein eigenes Buch schreiben. Schon eine Bestandsaufnahme der allerkostbarsten Objekte würde den Rahmen dieses Referates sprengen. Wir begegnen griechischen Kothurnen und Textbüchern in allen Sprachen, verfolgen den Weg eines Schauspieles vom Manuskript bis zur Premiere, sehen in den beiden Wechselsälen (Saal der Völker und Saal der Meister), die allwöchentlich gewechselt werden, wie zwanzig Völker Shakespeare spielen, und Bühnenbilder von Teo Otto. (Es werden unter anderem folgen: Die Schweiz und das spanische Theater der Gegenwart.)

Die Ausstellung, die zwei Jahrtausende des Theaters gegenwärtig macht, verspricht ein Ereignis wie die Ausstellung Etruskischer Kunst in Zürich zu werden. So wie diese wird auch sie eine Wanderausstellung sein, die anschließend in Paris und später auch in Villa Hügel gezeigt werden wird. Die Anregung, die der Katalog gibt, es möge in Wien einmal ein Theatermuseum geschaffen werden, sollte nicht ungehört verhallen. So dürfte auch diese „Europäische Theaterausstellung 1955“ in Wien Geschichte machen.

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