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DIE GRUPPE DER SIX

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Tm Jänner 1920 fand in Paris ein Konzert statt mit Kammer- - musikwerken von Darius Milhaud, Arthur Honegger, Louis Durey, Georges Auric, Francis Poulenc und Germaine Taille- ferre. Hierüber referiert der Kritiker Henri Collet in der Zeitschrift „Comoedia“ unter dem Titel: „Les Cinq Russes, les Six Franęais et Erik Satie“. Collet spielte mit diesem geschickten Titel auf das „mächtige Häuflein“ der fünf russischen National- komponisten Balakirews, Borodin, Cui, Mussorgsky und Rimsky- Korssakow an, denen er sechs junge Franzosen mit ihrem „Lehrer“ an die Seite stellte. Der Titel war gut erfunden, und der Name „Les Six“ bürgerte sich ein. Es gab Konzerte mit Werken der Six, deren Manager meist Jean Cocteau war, in einem jungen Pariser Verlag, der „Edition de la Sirene“, erschien ein Heft mit Klavierstücken der Six, und noch im Jahre 195 3 stellten die Mitglieder der Gruppe repräsentative Werke für zwei Langspielplatten der Columbia zusammen, die mit einer Zeichnung Cocteaus geschmückt sind, auf der die Profile aller Sechs in genial-verspieltem Linienzug miteinander verbunden erscheinen. Und vor etwa drei Jahren konnte man auf Pariser Litfaßsäulen ein großes Plakat mit der Ankündigung eines „Concert — Groupe des Six“ sehen, das aber wegen Erkrankung mehrerer Teilnehmer abgesagt werden mußte. Arthur Honegger war damals bereits gestorben, alle übrigen Mitglieder der Gruppe leben noch und sind — wohl ein fast einzigartiges Phänomen in der neueren Musikgeschichte — auch heute noch miteinander freundschaftlich verbunden.

Jenes Konzert, nach welchem die Gruppe der Six durch den Musikkritiker der „Comoedia“ ihren Namen zugewiesen erhalten hatte, war abef nicht die erste gemeinsame Veranstaltung. Bereits 1918 trafen sich im Atelier des Malers Louis Lejeune einige Künstler, deren Vorbild Erik Satie war und die von ihm den Namen „Les Nouveaux Jeunes“ erhalten hatten. — Der Name Milhauds fehlt auf diesem Programm, denn Milhaud war damals noch in Brasilien, an der französischen Botschaft, wohin ihn Paul Claudel berufen hatte.

Aber schon ein Jahr vorher, nämlich 1917, hatten Cocteau und Satie das „realistische Ballett“ „Parade“ gemacht, das als Veranstaltung des Russischen Balletts im Theater du Chatelet uraufgeführt wurde. Die Dekorationen und Kostüme stammten von Picasso, die Choreographie von Leonide Massine. Der Hauptbestandteil waren drei burleske Szenen im Stil des Music- Hall mit chinesischen Gauklern, Akrobaten und „amerikanischen Mädchen“. Diese Partitur, die auch Sirenen, Schreibmaschinen, Dynamos und Flugzeugmotoren vorsieht, ist sehr charakteristisch für den Bürgerschreckcharakter, den Saties Werke der mittleren Periode aufweisen.

Hier soll auch erwähnt werden, daß eine Wechselwirkung zwischen Strawinsky und Satie beziehungsweise der Six zu Beginn der zwanziger Jahre stattgefunden hati, E , war itvder:Zeit, da Strawinsky sich von dem nationalrussischem.tStil’löste,-wäh- . rend Codteäii ‘ftir die Gruppe deföSiX einen nationalfranzösischen Stil proklamierte. Dieser kann etwa folgendermaßen charakterisiert werden: klare und kleine Formen, unter Verzicht auf allzuviel „Durchführung", Vermeidung jeder Emphase und des romantischen Überschwangs, größtmöglicher Verzicht auf Chromatismus — der in seiner Konsequenz zur Atonalität führt (vor der gewarnt wird!) —, diatonische Harmonik, feste Tonalität oder klar erkennbare Polytonalität, die, wir fügen es hier gleich ein, von Milhaud später zu einem Kompositionsprinzip ausgebaut wurde. Soweit das Prinzipielle. Aber Cocteau mahnte: „Das Publikum fragt. Man muß nicht mit Manifesten, sondern mit Werken antworten.“

Der am wenigsten bekannte der Six ist Louis Durey, ein eklektischer Geist, bescheiden, von ein wenig professoralem Typus, dessen Urteil und Hilfsbereitschaft von seinen Freunden hochgeschätzt waren. Er vertonte Texte von Theokrit, Petronius, Charles d’Orleans, Rilke und Tagore. schrieb aber auch, unter dem Einfluß Saties, die „Scenes de Cirque“ und eine Kantate für Sopran und Bläserensemble. „Les Printemps au fond de la mer“, deren poetischer Text und Titel von Jean Cocteau stammen.

Die mehrfach zitierte Aphorismensammlung „Hahn und Harlekin“ ist Georges Auric gewidmet, der Cocteau am nächsten stand und zu allen seinen Filmen die Musik geschrieben hat. Er wendet die Ästhetik Saties und Cocteaus auf die Gebrauchsmusik an, besitzt Geist, Witz und Ironie, liebt das Kräftige, Helle und

Direkte, schreibt elegant und farbenfreudig und gilt als Repräsentant des spezifisch Pariserischen im Kreise der Six. Auric begann als intellektuelles und musikalisches Wunderkind, schrieb mehrere Ballette, wie „Les Facheux“ und „Les Matelots“, aber auch eine so anspruchsvolle und expressive Partitur wie die zu „Phėdre“ und nimmt unter den Filmkomponisten von Rang heute wohl den ersten Platz ein.

Tm gleichen Jahr wie Auric, nämlich 1899, wurde Francis Poulene geboren, dessen Name während der letzten Jahre durch so ernste Bühnenwerke wie „Le Dialogue des Carmėlites“ nach Bernanos und „La Voix humaine“ nach einem Text von Cocteau bekannt wurde. Aber als junger Mensch tat er sich durch Clownerien und groteske Späße hervor, und auch seine Neigung zum Klassizismus ist echt französisch. Er hat keinerlei Beziehung mehr zur französischen Wagner-Mode und zum sogenannten „Franckismus“, sondern verehrt Gounod, Massenet, Chopin, Chabrier, Debussy, Schubert und, natürlich — Satie. Wir erwähnten bereits seine „Rhapsodie Negre“. Nennen wir noch aus der Zeit der zwanziger Jahre das in Monte Carlo geschriebene und uräufgeführtf’Bällett ,;EešiTHches“rrfU!defn Marie tau- rencin die Bühnenbilder schuf, ‘eirfr „Conęėrt: champetre“. als dessen Solist Poulenc gerne auftritt, zahlreiche Kammermusikwerke, von denen das Sextett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Fagott und Klavier besonders charakteristisch ist, und zwar sowohl für den Divertissement-Charakter der Gruppe der Six als auch für ihr Klangideal, demzufolge die Blasinstrumente und das Klavier bevorzugt werden.

In der Blütezeit der Gruppe der Six, also zu Beginn der zwanziger Jahre, huldigt auch der schwerblütigere Arthur H o n e g- g e r, der später als Autor biblischer Oratorien, Mysterienspiele und Totentänze hervorgetreten ist, der leichteren Muse. Er hat nicht nur an dem Gemeinschaftswerk der Six, der Burleske „Les Maries de la Tour Eiffel“, mitgearbeitet, diesem französischen „Petruschka“, sondern schrieb auch das Rollschuhballett „Ska- tin-Rink" für schwedische Tänzer, die Apotheose der modernen Technik „Pacific 231“ und das mouvement symphonique „Rugby“. Die Einbeziehung des Sportes und der Technik gehören nämlich gleichfalls zum Programm der Six, und fast jeder von ihnen hat hierzu einen Beitrag geleistet. Aber auch in den nicht szenischen und nicht programmatischen Werken Honeggers ist etwas von jener Leichtigkeit und Eleganz, jenem konzertanten, nicht symbolischen Stil zu spüren, für den das 1924 entstandene „Concertino für Klavier und Orchester“ mit seinen diskreten Jazzanklängen ein gutes Beispiel ist.

Darius Milhaud, der gebürtige Provenzale, im gleichen Jahr wie Honegger geboren, nämlich 1892, kann und braucht wohl in diesem Rahmen nicht vorgestellt zu werden. Sein weit über 300 Nummern zählendes kompositorisches Werk gleicht einem vielarmigen Strom, der schwer zu überblicken ist. Vom kecken Chanson zum abendfüllenden Bühnenwerk sind alle Gattungen vertreten, und Milhauds Werke werden in der ganzen Welt gespielt. Er bezeichnet sich selbst als Liebhaber und Gestalter eines „mediterranen Lyrismus“, und in der Tat liegt ein helles grelles Licht auf allen, oder doch den meisten seiner Stücke. Immer auf der Suche nach neuem, schrieb er für Baden- Baden eine Operntrilogie nach antiken Sujets, die insgesamt 27 Minuten dauert. Gemeinsam mit Cocteau schrieb er die grausige Moritat vom „Armen Matrosen“, einen der packendsten neueren Operneinakter, ferner die Posse vom „Ochsen auf dem Dach“, deren Hauptakteure bei der Uraufführung im Jahre 1920 die berühmten drei Fratellinis waren, während die Dekorationen von Raoul Dufy entworfen wurden. Besonders abwechslungsreich ist der Werkkatalog Milhauds in den Jahren 1920 bis 1924, während der Blütezeit der Sechsergruppe. Da finden wir zwölf reizende Chansons auf Texte von Renė Chalupt mit dem Titel „Les Soirėes de Petrograd“, eine aus sechs Teilen bestehende Pastorale für Gesang und sieben Instrumente, deren Texte aus .einem IH chjf en.K bgÄjm, und taJitgj j lautet „Machines Agncoles . jį jpa wyįsc ijiefilicdi žjggl Į „Catalogue de Fleurs , eine der verspieltesten und reizvollsten Schöpfungen dieser Art, einen Blumenkatalog, wie ihn uns im Frühjahr die Großhandlungen ins Haus schicken.

Bereits in den frühen zwanziger Jahren hatte Milhaud während zweier Amerikareisen den Jazz kennengelernt. Nach Paris zurückgekehrt, begann er die Arbeit an einem Werk, welches eines der ersten ist, in denen ein Komponist von Rang die Elemente des Jazz in einem symbolischen Werk anwendet. Das war drei Jahre vor George Gershwins „Rhapsodie in Blue“. Das Ballett „La Creation du Monde“, nach einem Textentwurf von Blaise Cendrars, schildert die Erschaffung der Welt, wie sie ein Negermädchen erzählt. Für die Uraufführung durch das Schwedische Ballett in Paris, im Jahre 1933, hatte Fernand Leger die Bühnenbilder und Kostüme entworfen.

Es sind nicht nur die Jazzelemente, welche die Gruppe der Six mit unserer Gegenwart, speziell mit der „neuen Welt“, Amerika, verbinden. Aus der Pariser Nachkriegsmoderne ging die „Ecole d’Arceuil“ hervor, deren Schüler sich gleichfalls zur Ästhetik Saties und Cocteaus bekannten. Es war die Zeit der beiden großen konkurrierenden Ballette, des Russischen von Diaghilew und des Schwedischen, für das „Les Maries de la Tour Eiffel" geschrieben wurden, es war die Zeit der glanzvollen avantgardistischen Soireen in den Aristcjkratenhäusern der Noail- les und Polignac, die Zeit der Dadaistenbühne, in deren Nähe Hemingway, im Cafe du Dome, seinen Pernod trank und da Antheil in der Musikalienhandlung mit dem Namen „Le Sacre du Printemps“ seine Aeroplan-Sonate vorspielte.

Aber da ist, aus der Gruppe der Six, noch Germaine Taille- ferre. Wir haben sie nicht vergessen, sondern wollen ihr, wie man das bei Frauen tun soll, das vorletzte Wort lassen. Ihre Musik ist von klassizistischer Klarheit, sie fürchtet sich nicht vor polytonalen Reibungen, ohne je hart zu sein. Anmutig und elegant, ist sie ganz ohne die Schelmerei und Oberflächlichkeit der „Damenkunst“, und ein Freund nannte Germaine Tailleferre die Marie Laurencin der neuen Musik.

Das letzte Wort jedoch möge Jean Cocteau haben, der in einem Vortrag sagte: „Es will mir scheinen, daß der Vorzug jener Gruppe, die man .Gruppe der Sechs“ nennt, der ist, nicht eine ästhetische Gruppe, sondern ein Freundschaftsbund zu sein. Kein Schatten hat jemals unser Einverständnis getrübt. Das kommt daher, daß dieses Einverständnis mehr von Gefühlen als von Meinungen bestimmt war Jeder arbeitete nach seinem Geschmack, und niemand brauchte irgendwelchen Ukasen zu folgen. Sechs Künstler liebten sich, einer den anderen, und ein siebenter fand sich in meiner Person. Das also war die Doktrin der Gruppe. Nach so vielen Jahren präsentiert sie sich intakt, trotz des Totenzuges, der sie begleitet. Ich grüße die Gruppe der Six als Beispiel für einen freien Raum, für einen soliden Block, gebildet aus Gegensätzen — und der gleichen Treue des Herzens . . . Wir waren alle unerträglich, und man mußte es wohl sein, denn nur der Geist des Widerspruchs bewahrt vor der Routine. Und wenn die Aufgabe der Jugend nicht darin bestünde, sich aufzubäumen gegen das Bestehende, selbst wenn sie es bewundert, so würde sich ihre Rolle auf den Gehorsam und darauf beschränken, die Schlachtfelder zu bevölkern.“

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