6643659-1958_10_14.jpg
Digital In Arbeit

Die Harmonie „parallel zur Natur“

Werbung
Werbung
Werbung

Vielfältig lassen sich geistesgeschichtlich bedingte Beziehungen und Parallelen zwischen bildender Kunst und Literatur seit dem Beginn der Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisen. Die inneren Analogien der Entwicklung ergeben sich sowohl in den Haupt-wie in den Nebenlinien.

Sowohl der Ansatz der modernen Dichtung, als auch der Ansatz der modernen bildenden Kunst erfolgte in Frankreich. In dieser ist Paul Cezanne , (1839—1906) die entscheidende Gestalt. Zwischen ihm und Mallarme, der den von Baudelaire begonnenen Weg fortsetzt, lassen sich eine Reihe von Entsprechungen in ihrem künstlerischen Wollen und in ihrem Werk nachweisen:

1. Die Einsamkeit des Künstlers. Sie ist keine zufällige Vereinsamung und nicht psychologisch bedingt. Sie wird als notwendige Voraussetzung künstlerischen Schaffens begriffen. Sie entspricht der isolierten Stellung des Menschen in einem neuen Weltbild, das sich nicht mehr um den Menschen ordnet. Das bisherige Denken, das' den Menschen im Zentrum der Welt sah, gab keine Grundlage für einen neuen, in sich geschlossenen Wirklichkeitsentwurf durch die Kunst. Cezanne vei sucht die Distanz wischen dem vereinsamten Ich des modernen Künstlers und der fremd gewordenen Welt zu überwinden, indem er in der Struktur des Kunstwerks einen neuen, dauerhaften Zusammenhang schafft. Mallarme geht nicht ganz so weit. Er empfindet die Vereinsamung des Künstlers als „Ewählung“, spricht aber auch vom Dichter als „Kranken“.

2. Der Isolierung des Künstlers in der menschlichen Gesellschaft und im neuen Weltbild

entspricht das geänderte Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk. Das Kunstwerk soll riög-lichst objektiv und frei von persönlich bedingten Elementen sein. Das künstlerische ich soll im Kunstwerk nicht mehr anwesend sein. Cezanne: „Der Künstler ist nur ein Aufnahmeorgan. .. aber ein gutes, kompliziertes, empfindliches... Aber wenn er dazwischenkommt, wenn er es wagt... sich willentlich einzumischen in den Liebersetzungsvorgang, dann bringt er nur seine Bedeutungslosigkeit hinein, das Werk wird minderwertig ... Sein ganzes Wollen muß schweigen. Er soll in sich verstummen lassen alle Stimmen der Voreingenommenheit, vergessen ... Stille machen, ein vollkommenes Echo sein.“ — Mallarme: „Literatur besteht darin, den Herrn Soundso zu beseitigen, der sie schreibt.“ Der Dichter ist nur noch „schwingendes Zentrum unbestimmter Erwartung“. In einem Brief (1867): „Ich bin nunmehr unpersönlich, bin nicht mehr Stephan...“ — Ebenso Flaubert: „Ein Kunstwerk, das nach dem Schweiß riecht, den es gekostet hat, stinkt.“ •

3. Das Kunstwerk schließt nicht nur den Künstler, der es hervorbrachte, aus seiner Existenz aus, sondern es ist auch unabhängig von einem Betrachter oder Leser. Bei Cezanne kommt das im Ende der klassischen, auf den Menschen bezogenen Perspektive in einer aperspektivischen Raumdarstellung zum Ausdruck. Perspektive ist das Ordnungssystem, das das menschliche Auge in einen Naturausschnitt hineinprojiziert. Nunmehr steht nicht der Beschauer, sondern das Kunstwerk im Mittelpunkt. Die Perspektive hat sich den Gesetzen bildnerischer Gestaltung unterzuordnen. Diese ist auf sich selbst, nicht auf einen Ideal-Beschauer bezogen— Für Mallarme wird die Lyrik zu einer „Stimme, die den Dichter wie den Leser verbirgt“. „Das Werk ist unpersönlich, und sobald man sich von ihm löst, dul-

det es keine Annäherung des Lesers. Es ist derart, daß es ganz allein dasteht: erschaffen, existierend.“

4. Die Auffassung dessen, was Kunst zu sein und zu leisten hat, erreicht eine vom abendländischen Denken bisher nicht erlangte Höhe. Das Kunstwerk hat objektive Existenz, ein Sein für sich. Es ist „eine Harmonie parallel zur Natur“ und dieser gleichwertig (Cezanne). Der Bildraum wird als Daseinsraum begriffen. Während der Künstler nur das subjektive Bewußtsein seines Gegenstandes ist, ist die Leinwand dessen objektives Bewußtsein. — Bei Mallarme wird dem Gedicht eine von der Außenwelt unabhängige, in sich selbst gegründete Existenz zugewiesen.

5. Cezanne und Mallarme waren sich der Vorläufigkeit des Erreichten angesichts der

Größe der Aufgabe bewußt Die Kunst steht an der Grenze des Unmöglichen. Cezanne litt an der Vorstellung, die volle Realisation der neuen Harmonie nicht erreicht zu haben. Er sah sich als erster eines neuen Weges. Mallarmes Gedichte, die oft nur aus einem unvollendeten Satz bestehen, drücken die ständige Nähe des Schweigens aus, indem sie dieses ins Gedicht mit hineinnehmen.

6. Das Interesse wendet sich vom Ding zur Form. Der Stilwille beherrscht den Entstehungsvorgang des Kunstwerks. „Gegenstand“ des Bildes oder Gedichtes ist fast immer ein an

sich bedeutungsarmes Motiv oder Sujet. Auch bei F 1 a u b e r t wird das Thema erst durch die Form bedeutungsvoll.

7. Die Kunst soll die Dinge nicht psychologisch, sondern archetypisch sehen. Das Impressionistische, sensorisch Bedingte, Stimmungsmäßige wird bei Cezanne bewußt ausgeschlossen, bei Mallarme das Gemüthafte. Ablehnung der „Trunkenheit des Herzens“.

8. Die Unterordnung der Wirklichkeit unter

die Strukturgesetze des Kunstwerks führt zur Deformation, die im Grunde Neuformung ist. In der Dichtung ist sie schon bei Baudelaire vorgebildet, bei Mallarme führt sie bis zur „Zerstörung der Realität“ („Die Zerstörung wurde 'zu meiner Beatrice“). Diese nicht durch das künstlerische Temperament bedingte Deformation findet sich bei Cezanne, in verstärktem Maße bei den Kubisten, besonders bei Picasso:

Ende der Kunst als idealisiertes Abbild, Ende des Begriffs des „Ideal-Schönen“ im Sinne der Renaissance.

Der Bildaufbau wird bei Cezanne durch die Mittel der Malerei, das Gedicht bei .Mallarme durch die Worte bestimmt. Andre L'Hote schreibt über Cezanne: „Seit 188 5 ist seine Bildkonstruktion das Ergebnis einer methodischen Vereinigung von Elementarformen, wie von Leitmotiven. Alle geben sich untereinander geheimnisvolle Anspielungen wie bildnerische Reime.“ Maurice Denis (1870—1943) formulierte unter dem Eindruck von Cezanne: ein Bild ist, ehe es irgend etwas darstellt, eine ebene Fläche, bedeckt mit Farben in einer bestimmten Ordnung. — Mallarme: „Verse macht man nicht mit Ideen, sondern mit Worten.“ „Der Dichter überläßt die Initiative den Worten.“

9. Apollinische, nicht dionysische Kunst und klassische Formstrenge. Cezanne wollte „durch die Natur wieder klassisch werden“. „Ich will aus dem Impressionismus wieder etwas Festes und Beständiges machen, wie die Kunst in den Museen.“ Der Dunkelheit Mallarmes liegt eine letzte Klarheit des geistigen Gehalts zugrunde. Die äußere Formstrenge dient dazu, der kaum faßbaren, „verdünnten“ Aussage Festigkeit zu geben. In späteren Jahren wandte sich Mallarme ' von der alten klassischen Form ab und strebte eine völlige Uebereinstimmung der typographischen Gestalt mit dem Inhalt an (Gedicht: „Un coup de des jamais n'abolira le hasard“).

yon Mallarme lassen sich Parallelen auch zu anderen Malern ziehen. Mit Odilon Redon verbindet ihn das Traumhafte, Vieldeutige. Gau-guins Begriff der suggestiven Bildform, der „Suggestion der Mittel“ („magischer Dekor“, „magischer Akkord“) geht auf Mallarme zurück, der mit den Impuls- und Suggestivkräften des Worts operierte: „Das Ding suggerieren, hier liegt das Ziel.“ Auf Mallarme wie Gauguin übt das Symbol als Zeichen verborgener Ordnung und Harmonie starke Anziehungskraft.

uch in der weiteren Entwicklung zeigen sich Uebereinstimmungen in den Strukturelementen des Kunstwerks. Im 20. Jahrhundert entspricht der entscheidenden Persönlichkeit Picasso (geb. 1881) Joyce. Beiden gemeinsam sind die wichtigsten Komponenten zeitgenössischen Gestaltens:

1. Die Einheit der Raum-Zeit-Darstellung. Bei Joyce ist sie bereits im „Ulysses“ (1914

bis 1922) als eine kinetische Einheit in der Schilderung eines Tagesablaufs im Leben zweier Antagonisten — Leopold Bloom und Stephen Dädalus (der Bürger und der Künstler, beide Exilierte, der eine durch Rasse, der andere durch freie Willensentscheidung) — als statisches Element verwirklicht. An die Stelle einer geradlinigen Kausalität tritt die Verknüpfung von Schicksalsmotiven, in denen die Vergangenheit in der Gegenwart dauernd präsent ist und bereits die Zukunft enthält. In „Finnegans Wake“ wird diese Einheit ein zyklisches Kontinuum, das sich in sich selbst schließt. Genau so erscheint der Raum in der Darstellung Picassos seit etwa 1925 in sich geschlossen. Durch das Hinzutreten des Zeitelements („vierte Dimension“) führt der Raum in sich selbst zurück. Dies Ergebnis ist ansatzweise schon im analytischen Kubismus (seit 1907) verwirklicht, der die Simultanität in die Malerei einführte. Mehrere Ansichten auf das Objekt werden in eine statische Form gebracht (Multiplanperspektive).

2. Die Metamorphose in der Metapher und als künstlerisches Element, als Verwandlung

eines bekannten Objekts in ein anderes bekanntes mit möglichster Assoziationsbreite. (Sirenenszene, Kyklopenszene, Circe usw. im „Ulysses“). Die punktuelle Genauigkeit in der Beschreibung, die eine Verlangsamung des Romanablaufs hervorruft, und das Verfahren der „Epiphanie“ („Jugendbildnis“ und „Stephen Hero“ von Joyce) geben gemeinsam mit den evozierten Assoziationen den mythischen Erlebnisbereich der Handlungen und Objekte frei. Bei Picasso entbindet die Raum-Zeit-Einheit der Darstellung die Form von“ der Beschreibung und führt zu ihren genetischmythischen Anlagen und Quellen zurück. Die Deformationen der Wirklichkeit, die durch dies bildnerische Verfahren entstehen, geben dem Künstler die Freiheit, in Metaphern und Metamorphosen mythische Formassoziationen zu gestalten.

3. Ein verdecktes strukturelles Gerüst dient als Grundlage der scheinbar frei spielenden

Formen. Bei Picasso ist dieses strukturelle Gerüst (wie bei Juan Gris) die Anwendung des „gerechten Grundes“ (Villar d'Honnecourt), die sich seit 1925 nachweisen läßt, bei Joyce im „Ulysses“ der leicht veränderte Aufbau der Odyssee und in „Finnegans Wake“ die Geschichtsphilosophie des Gian Battista Vico, die das Werk bis in die Wort- und Satzstruktur formt. Den (100?) „Can-tos“ von Ezra' Pound liegt der Aufbau von Dantes „Divina Commedia“ zugrunde.

4. Das gemeinsame Verhältnis zur Tradition. Picasso geht von Cezanne aus und führt die

von Cezanne begonnene Zertrümmerung des zentralperspektivischen Raumes zu ihrer logischen Konsequenz und zu einer neuen Raumdarstellung. Er trifft sich dabei mit Joyce, der die Akribie des Ibsenschen Naturalismus zu seiner metaphysischen Konsequenz führt.

5. Das Verhältnis des Kunstwerks zum Leser beziehungsweise Beschauer. Joyce hatte, um

das Bewußtsein des Lesers in den Ablauf „hineinzusaugen“, das von Edmond Dujardin in seiner Erzählung „Les lauriers sont coupes“ angewendete (und bei Laurence Sterne vorgeformte) Kunstmittel des „inneren Monologs“ (besser: „Bewußtseinstromes“) verwendet, das eine vollkommene Abkehr von der Deskription zur Evokation hin bedeutet — analog der evozierenden Schilderung der Objekte in der Malerei. Die Bilder Picassos kennen keinen vom Beschauer abgegrenzten Raum. Er wird in den Bildraum „hineingesogen“. Ende der Funktion des Rahmens als „Fenster“.

jgereits Proust hatte auf die Funktion der Zeit in der Darstellung im Roman hingewiesen („A la recherche du temps perdu“ — „Temps retrouves“). Ausgehend von Bergson war ihm die „Dauer“ (duree). das Hineinwirken der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft als untrennbares Ganzes bedeutsam geworden. Er erkennt den Wert der evokativen Assoziation als Element, die Zeit aufzuheben. (Joyce: „Ach von der Nachtmahr der Geschichte zu erwachen“).

“y on anderen unabhängig hatte Ramuz um 1910 eine kinematographische Technik der Darstellung entwickelt, eine Art „Kameraauge“ der Schilderung, das dann unter dem Einfluß Joyces (in einem teilweisen Mißverstehen seiner Prinzipien) auch bei anderen seine Anwendung findet. (Zum Beispiel Dos Passos, Virginia Wöolf. A. Döblin). Dieses Prinzip hat eine Parallele im „Futurismus“. (Abbild simultaner Z:mände und Bewegungen in der Malerei um 1912.)

Jn der Lyrik führt Ezra Pound durch die Assoziationskraft des Wortes die Raum-Zeit-Einheit ein, ebenso die Kollagetechnik durch das ZitaJ. Unter seinem Einfluß werden diese Techniken von Eliot in den ,.Prufrock“-Gedich ten, in „Waste Land“ und von Auden zum Beispiel im „Weihnachtsoratorium“ verwendet.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung