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Pünktlich zum Krampustag ist uns eine neue Grundsatzfrage ins Kinderzimmer geschwappt: Wieviel Elend, wieviel Böses, wieviel Realismus halten Kinder eigentlich aus? Normalerweise treten solche Fragen nur bei den Nachrichten auf -dann, wenn plötzlich Massaker, Explosionen oder stacheldrahtbewehrte Drasenhofener Jugendgefängnisse über den Bildschirm flimmern und man als Mutter hektisch den Teletext- und Tonlos- Knopf auf der Fernbedienung sucht.

Doch diesmal hat uns ein Klassiker der Weltliteratur verstört, Charles Dickens' "Oliver Twist". Da gibt es ja nicht nur ärgste Armut und Brutalität, wie sie im England des Jahres 1837 offensichtlich auf der Tagesordnung standen. Da gibt es auch diesen Fagin, eine widerliche Figur - ein gieriger Hehler, der Waisenkinder wie Oliver zum Stehlen und andere zum Morden bringt. Es ist auch nicht irgendein Typ, den Dickens anno 1837 mit solchen Abgründen zeichnet, es ist ein "alter Jude" mit "zusammengeschrumpfter Gestalt, abstoßendem, spitzbübischem Gesicht und dichtem, klebrigem, rotem Haar". Dickens' antisemitische Stereotype wurden oft problematisiert, in jüngeren Ausgaben sind sie teils eliminiert, doch im hübschen "Arena Kinderbuch-Klassiker", den wir beim Schlafengehen über unsere Augen halten, springen sie uns seitenweise ins Hirn.

Was sagt man den Buben bei solchen Passagen? Dass solche Vorurteile für das viktorianische England typisch waren und längst verschwunden sind? Oder dass es sie viel zu oft auch heute noch gibt -wie die himmelschreiende Armut, Brutalität und Heimatlosigkeit unter Kindern? In Moskau und Bukarest sind zehntausende Minderjährige teilweise obdachlos, in Wien bis zu 600, wie Jethro Compton für seine Regie von "Oliver Twist" im Wiener "Theater der Jugend" recherchierte. Ich klappe das Buch zu und blende Drasenhofen aus. So viel Dunkles vor dem Einschlafen geht nicht.

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