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DIE INSEL DER APOKALYPSE

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Wer die von apokalyptischen Geheimnissen umwitterte Insel Patmos besuchen will, dem ist dringend anzuraten, sich zuerst mit Kreta und Delos vertraut zu machen, bevor er die Insel des Apostels Johannes, des Sehers von Patmos, knapp vor der kleinasiatischen Westküste betritt. Er wird die überraschende Entdeckung machen, wie diese drei Inseln in der griechischen Ägäis in aufsteigender Stufenfolge zusammengehören. Er wird mit wachsendem Staunen erkennen, daß Kreta, Delos und Patmos Geburtsstätten Europas und der abendländischen Kultur darstellen.

Gibt es nicht zu denken, daß die alten Griechen den Geburtsort des Göttervaters Zeus in eine Höhle des Idagebirges auf Kreta verlegt haben? In Gestalt eines Stieres holt Zeus die phöniaische Königstochter Europa von Asien nach Kreta, wo sie Mutter des Königs Minos wird, den seine ihm von Zeus eingegebenen weisen Gesetze wie die herrlicher Paläste von Knossos und Phaistos weltberühmt gemacht haben. Dieser Mythos drückt die bemerkenswerte Wahrheit aus, daß der geistige und geschichtliche Charakter unseres Kontinents an der Grenze von Morgen- und Abendland entstanden ist und eine Schöpfung darstellt, die schon am Ursprung die Begegnung und Verbindung zweier verschiedener Welten erkennen läßt. Wenn sich auch Zeus in einen Stier verwandelt hat, so gehört er doch nicht zu den erdgebundenen Gottheiten, sondern sein eigentliches Wesen bedeutet vielmehr die Abkehr von der Gebundenheit an die Erde und die Hinwendung des griechischen Geistes zu jenen Gottheiten, die im Lichte des Himmels ihren Sitz haben. Daher regiert Zeus die Welt vom Olymp aus, dem höchsten Berg Griechenlands, der das ganze Jahr mit Schnee bedeckt ist und dessen Gipfel im Glanz der südlichen Sonne weithin strahlt.

Kreta ist die Stätte, wo der religions- und geistesgeschicbt-lich bedeutsame Zusammenstoß dieser beiden Weltanschauungen und Göttergeschlechter erfolgte. In diesem Zusammenhang ist die Sage vom siegreichen Kampf des Atheners Theseus mit dem Minotauros zu erwähnen, mit jenem Ungeheuer, halb Mensch, halb Stier, dem Menschenopfer dargebracht werden mußten. Dieser Mythos spiegelt die Überwindung des kretischen Stiermenschen durch den griechischen Geist wider, der sich von der Fesselung an die dunklen Gewalten der Erde und des Blutes freigemacht hat und sich den Mächten des Himmels und des Lichtes verpflichtet weiß. Neben dem Stier hat im Kult der Kreter die Schlange eine große Rodle gespielt, die gleichfalls die Gebundenheit an die Erde und den Glauben, daß von ihr allein das Heil zu erwarten ist, versinnbildlicht.

Mit dieser Aussage wandern wir bereits zu einer weiteren Geburtsstätte des europäischen Geistes, nach Delos, der Mitte der Kykladen, das heißt jener Inseln, die im Kreis um Delos liegen. Im religiösen und politischen Leben der Griechen hatte diese kleine Insel lange Zeit eine so wichtige Stellung inne wie Delphi auf dem Pestland. Im griechischen Mythos gilt Delos als Geburtsstätte des Lichtgottes Apollo. Es ist überraschend, daß dieser Gott nicht zu den ursprünglichen Göttern gehört, die die Griechen aus ihrer nordischen Heimat mitgebracht haben. Seine eigentliche Heimat weist nach Kleinasien, und die Übernahme in den griechischen Götterkult an so bedeutsamer Stelle bekräftigt wieder die Tatsache, daß das, was wir Europa nennen, aus Begegnungen, Uber-schneidungen und Verschmelzungen verschiedener Religionen und Kulturen hervorgegangen ist. Auch an diesem Gott der alten Griechen wird die Überwindung der Erde durch den Himmel dadurch offenbar gemacht, daß Apollo die in einem dunklen Erdspalt hausende Pythonschlange in Delphi mit Pfeilen seines Lichtes tötet. Über dem Grab dieser Schlange in einem Gewölbe unter dem Apdlloheiligtum stand der „Omphalos“, ein mit einem netzartigen Relief verzierter Stein, den die Griechen „Nabel der Welt“ nannten.

An dieser Bezeichnung wird uns wieder klar, welch einzigartige Bedeutung die Griechen dieser Wendung von der Erde zum Himmel zugemessen haben. Nicht der Stier- und Schlangenmensch entspricht der wahren religiösen und geistigen Bestimmung des Menschen, sondern jener Mensch, der sich von der Gebundenheit an die Mächte der Erde befreit und erkennt, daß ihn seine Bestimmung hinauf ins Licht und zum Himmel weist. Diese Vorstellung geht so weit, daß auf Delos kein Mensch geboren werden und niemand sterben durfte. Für diesen Zweck diente die größere Nachbarinsel Rheneia. Denn Geburt und Tod, diese Zeichen der Erdgebundenheit des Menschen, empfand man als Widerspruch zum unsterblichen Lichtgott Apollo, dessen Kolossalstatue sich vor dem Tempel erhob, der zu den größten des Altertums gehörte, und zu dem die Griechen aus allen Teilen der damaligen Welt kamen, um hier an Festen und Feiern teilzunehmen.

Wenn man diese heute unbewohnte Insel betritt, ist man erschüttert von dem ungeheuren Trümmerfeld, das sich einem überall zeigt. Welch eine Illusion war dieser Glaube an den unsterblichen Lichtgott! Dennoch sind die Trümmer für uns ein wichtiges Zeugnis, daß Apollo ein schöpferisches Leitbild für den Griechen und damit für den europäischen Menschen geworden ist, das Leitbild der Durchseelung und Vergeistigung des Menschen, der die Mächte der Natur und die Leidenschaften des Blutes und der Sinne in Zucht hält und sie gestaltet, wie das Schiller einmal mit folgendem Vers gekennzeichnet hat:

Doch. Schönres find' ich nicht, so lang ich wähle, als in der schönen Form die schöne Seele.

Der Stier- und Schlangenmensch ist dm Streben, apollinischer Mensch zu werden, überwunden, und die Apollostatuen sind auch heute noch für uns einzigartige Verkörperungen der Überwindung des Tierhaften, einmalige Darstellungen gegenseitiger Durchdringung von Leib und Seele, von Stoff und Geist, von Erde und himmlischem Licht!

Wenn man Kreta und Delos besucht und ihre religions- und kulturgeschichtliche Bedeutung erfaßt hat, dann ist man eigentlich erst reif für den Besuch von Patmos, der Insel der Apokalypse, der wohl wichtigsten Geburtsstätte des europäischen Geistes. Nähert sich das Schiff der Insel, dann hängt der Blick wie gebannt an dem wehrhaften Johanneskloster, das auf der höchsten Höhe von Patmos durch den Mönch Christodoulos errichtet worden ist, nachdem ihm der byzantinische Kaiser Alexios Komnenos im Jahre 1088 die Insel geschenkt hatte.

Das weiträumige Kloster mit wertvoller Bibliothek und reicher Schatzkammer ist von steilen Mauern und starken Bastionen umschlossen, weil in jenen Zeiten Seeräuber das östliche Mittelmeer unsicher gemacht und immer wieder versucht haben, die Schätze der Klöster zu rauben. Die Mönche am Athos und auf den ägäischen Inseln mußten manchmal Meditation und Liturgie oder die Arbeit auf Feldern und in Gärten unterbrechen und zu den Waffen greifen, um freche Beutemacher zu vertreiben.

In der goldstrahlenden Bilderwand der Klosterkirche fesselte mich ganz besonders das Bild des Apostels, der in der linken Hand ein aufgeschlagenes Buch hält und mit der Feder in der Rechten auf den Text hinweist, augenscheinlich auf das vierte Evangelium, weil neben dem Apostel sein Wahrzeichen, der Adler, zu sehen ist.

Im Glanz der untergehenden Sonne war ich nach Patmos gekommen und hatte noch bei Tageslicht das Johanneskloster besichtigen können. Als ich es verlasse, steht der Mond bereits am Himmel und leuchtet in der staubfreien Luft in einem so strahlenden Glanz, daß man sich dem magischen Bann dieses Lichtes kaum zu entziehen vermag. Doch ich eile hinab zu dem kleinen Kloster, das über der Höhle erbaut ist, in der, nach der Überlieferung Johannes als Gefangener gelebt und die Apokalypse, die „geheime Offenbarung“, verfaßt hat, jenes prophetische Buch, das mit seinen Aussagen und Bildern einen einzigartigen Platz in der religiösen Weltliteratur einnimmt. Die Höhle mit ihren herabhängenden Felsen und vielen Nischen ist als Kapelle eingerichtet. Ein Mönch zeigt die Stelle, wo Johannes geschlafen und die schräge Steinplatte, auf der der Seher von Patmos die ihm zuteil gewordenen Offenbarungen niedergeschrieben hat.

Doch meine Aufmerksamkeit wird vor allem vom Altarbild in Anspruch genommen, das im Schein der flimmernden Kerzen nur schwach erleuchtet ist. Ich erkenne Johannes,wie er im Purpurgewand des Märtyrers auf dem Rücken liegt und nach oben blickt, ergriffen von den Bildern, die er schauen, und von den Worten, die er hören darf. Denn über ihm sitzt auf einem Wolkenthron der erhöhte Christus im strahlend weißen Gewand des Siegers, umgeben von sieben Leuchtern und mit sieben Sternen in der rechten Hand. Vielleicht hat der Maler jenen Augenblick festgehalten, von dem der Apostel berichtet: „Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse an der Trübsal und am Reich und im Ausharren bei Jesus, ich war auf der Insel, die da heißt Patmos, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus. Der Geist kam über mich an des Herren Tag, und ich hörte eine große Stimme... Er sprach zu mir: Fürchte dich nicht! Ich bin der erste und der letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, Ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel der Hölle und des Todes“ (1, 9—10 und 1, 17—18). .

Der römische Kaiser Domitian (81 bis 98 n. Chr.) hatte sich auf Münzen als „Dominus et Deus“, als Herr und Gott, verherrlichen lassen. Als ein überlebensgroßes, aus Gold und Elfenbein verfertigtes Standbild des Kaisers von Rom nach Ephesus gebracht wurde, wo der Apostel Johannes als Haupt der kleinasiatischen Kirche wirkte, und als dieses Bild in feierlicher Prozession vom Hafen in den Cäsartempel getragen wurde, hatte der Apostel gewagt, gegen den Kaiserkult als Götzendienst Stellung zu nehmen. Zur Strafe wurde der Apostel auf die Fellseninsel Patmos, damals eine Sträflingsinsel, verbannt. Doch die Zeit der Haft in der dunklen Höhle war immer wieder erfüllt von dem wunderbaren Licht, das Johannes schauen durfte: denn seine Augen sahen Christus leuchten wie die helle Sonne; er konnte den sehen, der allein die Vollmacht von Gott empfangen hatte, das Buch mit den sieben Siegeln in die Hände zu nehmen, zu öffnen und damit das Drama der Weltgeschichte zu bestimmen, weil Er sich als Gottes Lamm für die Sünde der Welt geopfert hatte.

Johannes war begnadet, das Geheimnis der Weltgeschichte zu begreifen als den Kampf zwischen Christus, dem Lamm Gottes, und dem Antichrist, dessen Werkzeug „das Tier aus dem Abgrund“ (das gleichsam aus dem Meer aufgestiegene Standbild des Casars!) und sein Lügenprophet (der Hohepriester des Cäsartempeüs in Ephesus und Verbreiter des Domitiankultes in Kleinasien) waren, die in grausamer Weise die Gemeinde des Herrn verfolgten, da sie sich weigerte, dem Kaiser göttliche Ehren zu erweisen. Doch die bedrängte Kirche hat zu allen Zeiten die Verheißung, daß Christus, der „Pantokrator“ ist, der Herr über alles (Apg. 10, 36) und daß das Lamm alle Seine Feinde überwinden wird, weil es „der Herr aller Herren und der König aller Könige“ ist.

Der griechische Geist, der einen überragenden Einfluß auf das Denken und Handeln der Menschen und Völker im römischen Weltreich ausübte, hatte mit seiner Philosophie, Kunst und Religion es doch nicht verhindern können, daß ein Mensch sich als Gott anbeten ließ und dadurch alle anderen Menschen zu Sklaven machte und ihrer menschlichen Würde beraubte. Die Visionen des Propheten Daniel aufnehmend, hat der Apostel Jobannes in unüberbietbarer Klarheit bezeugt, daß die Vergötterung eines Menschen unmenschlich ist, die Menschlichkeit und das Menschsein des Menschen in der letzten Tiefe bedroht und daher als verwerflich gebrandmarkt werden muß.

Im Kult des Casars kehrt in einer neuen, gesteigerten Form der Stier- und Schlangenkult, der einst in Hellas, in der Ägäis und in Kleinasien zu Hause war, wieder. Der griechische Mythos, der im Apollokult auf die Vermenschlichung des Menschen zielte, war dem Götzendienst des Casars nicht gewachsen. Werden wir uns dieser Zusammenhänge bewußt, dann erst geht uns die ganze Größe der Offenbarung des Johannes auf, dann erst überkommt uns ein heiliger Schauer der Ehrfurcht vor der Höhle, aus der die Apokalypse ihren Ausgang in die Christenheit und in die Welt genommen hat. Seit sie geschrieben worden ist, hat der eigentliche Kampf um den Menschen und seine Menschlichkeit in aller Schärfe begonnen: Der Kampf zwischen dem wahren Evangelium vom Gottmenschen Jesus Christus, der sich für die Rettung des Menschen geopfert hat, und dem falschen Evangelium vom Menschengott, der durch die Forderung nach göttlichen Ehren die Menschlichkeit vernichtet und sich dadurch als „Tier aus dem Abgrund“, als Werkzeug der „alten Schlange“ erweist.

Mit der Verheißung vom endgültigen Sieg Christi im Herzen neu gestärkt, trete ich aus der Höhle apokalyptischer Visionen und Prophezeihungen, und mich umfängt eine lautlose Mondnacht, deren Glanz sich auf den sanften Wellen des Meeres in seltsamen Farben spiegelt. Den Frieden, der in dieser Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag über Patmos liegt, empfinde ich als Vorahnung jenes Osterfrie-dens zwischen Gott und Mensch, den uns in der Schöpfung eines neuen Himmels und einer neuen Erde kein „Tier aus dem Abgrund“ mehr anfechten und streitigmachen kann.

Mögen griechischer und römischer Geist unerläßliche Säulen im Bau Europas darstellen, so stürzen sie doch unrettbar ein, wenn der Geist Christi nicht mehr in entscheidender Weise Glauben und Leben des Abendlandes prägt. Nicht Zeus und Apollo, nicht Phidias und Plato, nicht irgendein noch so mächtiger und genialer Cäsar retten den Menschen vor den Gefahren des Versinkens im Abgrund tierischer und teuflischer Mächte. Niemals darf das Bewußtsein schwinden, daß der Mensch nicht durch Olympia, sondern durch Golgatha erlöst worden ist. Das Menschsein des Menschen nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt bleibt gewahrt und wird immer mehr geläutert, wenn man im Antlitz der Menschheit immer deutlicher das Antlitz Christi erkennt.

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