Die kurze Herrschaft der Freischärler

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Im Herbst 1921 sind Österreich und Ungarn nach Kämpfen von Freischärlern knapp an einem Krieg vorbeigegangen. Die Volksabstimmung im Dezember klärte dann den Grenzverlauf.

"Wir waren ja Ungarn. Dann sind wir Österreicher geworden“, sagt die 103 Jahre alte Frieda Jeszenkowitsch, wenn sie an ihre Kindheit im (heute) burgenländischen Rust zurückdenkt. Eine Kindheit in einer Zeit, als eine alte Ordnung unterging; eine neue aber noch nicht greifbar war.

1919 ist Österreich ein geschlagenes Land: Der erste Weltkrieg ist verloren, die Habsburgermonarchie zerfallen. Die junge Republik kämpft ums Überleben. Der Friedensvertrag von St. Germain wird zum Synonym für als unerträglich empfundene Gebietsverluste. Die junge österreichische Republik kann zum Entsetzen der Bevölkerung nicht einmal alle deutschsprachigen Gebiete behaupten: Südtirol, Südmähren, das Sudetenland, Deutsch-Böhmen, Österreichisch-Schlesien und die Untersteiermark gehen verloren. Ungarn muss aufgrund des 1921 abgeschlossenen Friedensvertrags von Trianon die heutige Slowakei, Siebenbürgen, Kroatien und Slawonien abtreten.

Zu Deutsch-Westungarn heißt es seitens der Alliierten lapidar, dass man "es für richtig gefunden habe, Österreich jene Gebiete Westungarns anzugliedern, die von einer geschlossenen deutschen Bevölkerung bewohnt sind und deren landwirtschaftliche Produkte für die Ernährung Wiens und anderer Zentren einen wichtigen Bestandteil bilden.“

Übermacht der Freischärler stürmte Posten

Ungarn wird knapp 4000 km2 und rund 285.000 Menschen an Österreich verlieren: das heutige Burgenland. Doch bis zur endgültigen Übergabe stehen der Bevölkerung noch dramatische Ereignisse bevor.

Seit Beginn der Besetzung des Burgenlandes durch die österreichische Gendarmerie am 28. August 1921 ist es immer wieder zu Kampfhandlungen mit ungarischen Freischärlern gekommen. Die bewaffneten Nationalisten wollen den Anschluss an Österreich verhindern. Schließlich spitzt sich die Situation dramatisch zu: In den frühen Morgenstunden des 5. September 1921 wird der Gendarmerieposten in Deutsch Gerisdorf mit großer zahlenmäßiger Übermacht angegriffen. Nach kurzem Kampf sind die Gendarmen verwundet, gefangen oder auf dem Rückzug. 500 ungarische Freischärler bewegen sich auf die niederösterreichisch-burgenländische Grenze zu. Am 5. September 1921 kämpfen die Soldaten des österreichischen Bundesheeres vor Kirchschlag gegen den vorrückenden Feind. "Damals sind Österreich und Ungarn haarscharf an einem Krieg vorbeigegangen“, resümiert der Historiker Gerhard Schlag. Der Experte kennt die Motive des Angriffs: "Man wusste, die Österreicher werden sich verteidigen, und hat gehofft, dass das ungarische Heer eingreift. Das war, im Gegensatz zum österreichischen Bundesheer, noch nicht abgerüstet. Wenn es zu einem Krieg gekommen wäre, hätten die Ungarn nicht nur das Burgenland, sondern auch Wien und weite Teile des Westens besetzt. Dann hätte man wieder verhandeln können: Wir räumen zwar Wien, dafür bekommen wir das Burgenland zurück.“ In den wenigen Stunden der Kampfhandlungen müssen 16 Menschen ihr Leben lassen; auf beiden Seiten gibt es zahlreiche Verwundete. Die Angriffe der Freischärler auf niederösterreichisches und steirisches Grenzland können durch das Bundesheer abgewehrt werden, die Gendarmerie muss sich jedoch völlig aus dem Österreich zugesprochenen Gebiet zurückziehen.

Ein Territorium ohne staatliche Autorität

Die Ententeoffiziere, die die friedliche Übergabe des Burgenlandes überwachen sollten, unterstützen Österreich nicht. Das Bundesheer darf auf Wunsch der Alliierten nicht zum Einsatz gebracht werden. Österreich ist machtlos.

In den betroffenen Gebieten ist der Alltag im Spätsommer 1921 für viele Bewohner unerträglich. Im Niemandsland, in dem es keinerlei staatliche Autorität mehr gibt, sind die Menschen den Freischärlern hilflos ausgeliefert.

Rund einen Monat nach dem ersten Versuch, das Burgenland durch die Gendarmerie in Besitz zu nehmen, ist das Gebiet, das rechtlich schon zur Republik Österreich gehört, immer noch von Freischärlern besetzt. Auch für Ungarn verschärft sich die Situation zusehends; man beginnt die Kontrolle über die Freischärler zu verlieren. Italien übernimmt es, zwischen den ehemaligen Verbündeten zu vermitteln: Mit den Venediger Protokollen vom 13. Oktober 1921 schließen Österreich und Ungarn einen Kompromiss: Ungarn verpflichtet sich, für den Abzug der bewaffneten Einheiten zu sorgen; Österreich willigt in die Abhaltung einer Volksabstimmung in Ödenburg und den umliegenden Gemeinden ein. Die Bestimmungen über den Ablauf des Referendums sind für Österreich so ungünstig, dass eine Niederlage zu erwarten ist. "In Wahrheit hat Österreich dort einen Verzicht ausgesprochen. Die Volksabstimmung war nur eine Tarnung. Bundeskanzler Schober konnte nicht nach Wien zurückkehren und sagen: ‚Ich habe auf Ödenburg verzichtet’“, weiß der Historiker Walter Dujmovits.

Trotzdem kommt es im Vorfeld der Abstimmung zu einer wahren Propagandaschlacht. Die Menschen, die sich zwischen zwei Staaten entscheiden sollen, müssen zahlreiche Argumente gegeneinander abwägen. Die Republik ist nicht einmal drei Jahre alt, viele Bürger glauben nicht an ihr Bestehen. Die wirtschaftlichen Probleme scheinen übermächtig. Die Inflation beträgt 1921 rund 300 Prozent; Hunger, Massenarbeitslosigkeit und soziale Unruhe zeichnen ein düsteres Zukunftsbild.

Am 14. und 16. Dezember 1921 machen rund 27.000 Menschen von ihrem Abstimmungsrecht Gebrauch. Zuvor hatte die österreichische Regierung bei den Alliierten dagegen protestiert, dass die österreichfreundliche Bevölkerung von den ungarischen Behörden unter Druck gesetzt werde und die Zusammensetzung der Wahllisten willkürlich sei.

Schließlich entfallen rund 15.000 Stimmen auf Ungarn und rund 8.000 auf Österreich. In Ödenburg selbst stimmen 72,8 Prozent für Ungarn. Einige Ödenburger Umlandgemeinden verbleiben bei Ungarn, obwohl sie mehrheitlich für Österreich gestimmt hatten. Trotz Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung der Abstimmung wird das Ergebnis schließlich anerkannt. Für die burgenländische Bevölkerung ist der Verlust Ödenburgs eine Wunde, die erst allmählich verheilen wird.

Obwohl das Burgenland bereits 1921 Teil der Republik Österreich geworden war, standen die genauen Landesgrenzen noch nicht fest. Erst 1924 wird die Grenzziehung zwischen Österreich und Ungarn beendet. Die interalliierte Kommission versucht, den Wünschen der Bevölkerung entsprechen. So kommt Luising 1923 als letzte Gemeinde zu Österreich. Zehn andere Gemeinden gehen jedoch an Ungarn zurück.

Vielfalt förderte die nötige Liberalität

Die erste burgenländische Landesregierung unter Landesverwalter Robert Davy steht vor schwierigen Aufgaben. Aus verkehrstechnischen Gründen wird zunächst der Kurort Bad Sauerbrunn als Sitz der Landesregierung bestimmt; erst 1925 übersiedelt die Landesregierung nach Eisenstadt.

In Österreichs jüngstem Bundesland muss nicht nur Infrastruktur, Verwaltung und Wirtschaft aufgebaut werden. Auch eine gemeinsame Identität der Burgenländer entwickelt sich erst nach und nach. "Die Burgenländer sind ein Volksgemisch das aufgrund seiner historischen Entwicklung relativ offen ist. Man muss miteinander leben: Es hat hier immer verschiedene Volksgruppen und verschiedene Religionen gegeben. Dadurch ist eine liberale Grundeinstellung vorhanden, die auch notwendig ist, um die zukünftigen Herausforderungen zu meistern“, sagt der Künstler Andreas Lehner.

"1921 - Von Deutsch-Westungarn zum Burgenland“

Dokumentation, Menschen & Mächte Spezial 24.11., 23 Uhr, ORF 2; Wh. 27.11., 10.15 Uhr

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