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Die Macht der Melodien

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Musik heilt Melancholie und Epilepsie, erhöht die seelische Stabilität Ungeborener, ist gegen die Kräfte des Bösen wirksam.

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Musik heilt Melancholie und Epilepsie, erhöht die seelische Stabilität Ungeborener, ist gegen die Kräfte des Bösen wirksam.

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Am Anfang war der Klang - Er kam aus dem Schöpfermund und bedeutete Vollendung. Als Antwort darauf entstanden die Gestirne, jedes mit einem anderen Ton. Die griechischen Götter meinten, daß erst eine gesungene Stimme die Schöpfung des Zeus preisen könnte.

Symbol der von Allah getrennten Menschenseele ist die Flöte. Der heilige Augustinus nannte den gekreuzigten Christus eine Trommel, aus welcher der Klang der Gnade strömt. Die Trommel ist unerläßliches Werkzeug - Instrument - bei den Heilungstänzen der Schamanen. Das Wort, das am Anfang der Bibel steht, ist der Lobgesang oder der klingendschwingende Gnadenstrom.

Jeder Teil der Schöpfung hat seine Lieder. Es gibt Menschen, die glauben, daß Bäume paarweise singen. Fällte man den weiblichen Teil, sehnte sich der männliche nach ihm und sänge besonders schön. Ein Instrument aus Holz - die Zither mit Saiten aus geweihtem Gedärm - besingt die Klänge des Himmels, der Erde und der Menschen. Aus den Tönen baut sich ein neuer Kosmos, das Dao des Himmels und der Erde.

Mit Melodien kann man Menschen verhexen und verzaubern. Jene, die die Gestirne zum Klingen, die Harmonie der Sphären hörbar machen konnten, waren Schamanen, Priester, Derwische oder Zauberer. Sie hatten Macht, ihre Hörer in Trance oder Ekstase zu versetzen. Sie waren Orpheus, der die Steine bewegen und zum kosmischen Bauwerk errichten konnte, der die Eichen zwang, ihm nachzuziehen, der den Drachen mit seinem Lyraspiel besänftigte und die Furien umstimmte, ihm den Weg in die Unterwelt freizugeben.

Die Quin-Spieler des alten China, etwa im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, konnten sich mit alten Melodien in längst vergangene Zeiten versetzen, Kontakt mit den längst Dahinffexranprenen aufnehmen.

Die Tatsache - die nur aufs erste Hören unglaublich ist, - daß die Melodien den Menschen gegeben sind und sie diese nur aufnehmen, bestätigen Komponisten oder Schriftsteller— Lotte Ingrisch zum Beispiel. Erfindung geschieht in Trance, Inspiration kommt von jenseits des Menschen, von außen. Manche meinen sogar, daß sie nur um der Tantiemen aus dem Copyright willen ihren Namen unter ihr Werk setzen.

Die Medizinmänner hatten Macht -niemals Willkür, - weil sie mit den Göttern in Verbindung treten konnten und deren Willen den Menschen kundtaten, sie konnten Kontakt mit den Geistern, die in den Winden, Im Regen, in den Bäumen lebten, aufnehmen. Sie konnten mit Musik -stärker und geheimnisvoller als mit jeder anderen Kunst - die geistigen Kräfte aufrütteln und so das Böse behandeln.

Luther sah in der Musik ein Geschenk Gottes. Homer benützte die Musik bei Operationen, der antike Philosoph Celsus wußte, daß Musik melancholische Gedanken vertreiben konnte. Der heilig-heilende Lazarus behandelte mit Musik die Lepra, Vitus die Epilepsie. In Skandinavien wußten die Menschen von heilenden Liedern, mit dem jeder sein bester Arzt war. Äskulap heilte Schwerhörige durch den Klang kleiner Trommeln; nach ihm sind die Musikspitäler (siehe auch Seite 14) benannt.

Musik war staatstragend. Im osma-nischen Reich gab es Orchester, in denen zwei- bis dreitausend Menschen miteinander musizierten, im alten China sechzehn Orchester mit bis zu zehntausend Musikern.

Das Kaiserliche Ministerium für Musik in China hatte auch die Verwaltung der Maße und Gewichte über. Die chinesischen Herrscher befragten, wenn sie wissen wollten, wie es um den Staat stand, die Musiker. Sie hörten auf den Stimmton und die Tonart und nahmen geringste Abweichungen wahr. Das orientalische Denken in Analogien erleichterte die Übertragung des Zustands der Musik auf größere kosmische Zusammenhänge, auf die Hierarchie der Weltenordnung, die staatstragend war. Die Wisspnsrhaft dpr man trprn das Attribut modern gibt, hinkt den Erkenntnissen der Mythen erstaunlich nach. Sie kann Binsenweisheiten und Quintessenzen nachweisen: Yehudi Menuhin erklärt, ein Lied für das Ungeborene erhöhe dessen seelische Stabilität. Manche Dichter vergaßen es nie.

Paul Claudel, der den Menschen sieht, „geschaffen als eine Saite in der Harmonie der Wesen", dichtet: „Alle Musik ist innen / lausche dem innern Ton. / Dann genügt eine Astgabel / zum Kinn erhoben, als Fidel / ein blühender Zweig als Bogen, / und du vernimmst den Klang, / der durch alle Wesen schwingt."

Musiktherapie ist nicht Kunst. Nichtsdestotrotz wollen sich Künstler allfällige heilende Möglichkeiten zurückerobern. Dieses von Nietzsche „das dritte Ohr" genannte „atmosphärische Hören", das Hören mit der Seele („Musik und Psyche", Birkhäuser-Ratgeber 1988) hängt nicht von Kenntnissen oder Fähigkeiten ab; im Gegenteil, es kann durch diese scheinbar verkümmern. Der Geiger Martin Mumelter schreibt an den Anfang seines Buchs „Ums Leben spielen" (Verlag U. Müller-Speiser, 1995): „Spielen / weil es immer / solang es noch / bis ps wipHpr / ums T .phpn crpht "

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