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Die Natur lacht über die Kultur

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Über brasilianische Literatur und ihrer multikulturellen Wurzeln der Identität des poetischen Kontinentlandes, das auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse Schwerpunktthema ist.

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Über brasilianische Literatur und ihrer multikulturellen Wurzeln der Identität des poetischen Kontinentlandes, das auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse Schwerpunktthema ist.

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Brasilien ist kein Land im herkömmlichen Stil, sondern ein poetischer Kontinent. Stefan Zweig nannte Brasilien in seinen gleichnamigen Essays „ein Land der Zukunft“, aber man müßte dem hinzufügen: zur Zukunft verdammt. Zwischen Mythos und Futurismus bewegt sich das Erscheinungsbild der urbanen Architektur mit seinen Favela-Baracken an den Rändern und den teils verfallenen sowie einigen gut erhaltenen Barockfassaden inmitten bunter Geschäftszeilen und abstrakter Büro- oder Modellbauten. Gewohnt wird im Kern der Metropolen bisweilen gar in drei Schichten, während in den gut beschützten Villenvierteln radiohörende und revolvertragende Wachtposten das Kommen und Gehen von Personal, Botengängern und Gästen registrieren.

Säo Paulo, die größte Stadt Brasiliens, ist eine gefährliche Mischung der Macht und Misere. Der heilige Paulus als Schutzpatron der Megastadt würde sich im Moloch des gigantischen Zement- und Steinlabyrinths hoffnungslos verlieren und vor den brutalen Gegensätzen und bizarren Widersprüchen der Wirklichkeit kapitulieren. Ihm bliebe zum Überleben allein die andere Welt der Literatur.

Die Wurzeln der brasilianischen Identität liegen sowohl in Europa als auch in Afrika. Die portugiesischen Eroberer brachten ihre Sklaven aus den afrikanischen Kolonien mit und versklavten die indianischen Ureinwohner Brasiliens und der südlichen Anrainerstaaten Paraguay und Argentinien noch bis ins Jahr 1888. Mit den Eroberern kamen bereits die ersten arabischen und jüdischen Vertriebenen der iberischen Halbinsel. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges strömten japanische Einwanderer ins Land. Der Süden Brasiliens ist geprägt von mittel- und osteuropäischen Menschen. Die brasilianische Gesellschaft verweist auf eine multikulturelle Tradition, die einst noch zukunftsweisend wird, wenn das schöpferische Potential der facettenreichen Kulturenbegegnung sich frei und kreativ entfalten kann.

Begonnen hat die authentische brasilianische Literatur im Jahr 1922 mit dem Beginn des Modernismo, der bewußten Abwendung von portugiesischen und europäischen Vorbildern. Der Blick wurde von nun an auf die Komplexität der brasilianischen Wirklichkeit, auf ihre sprachliche, künstlerische und kulturelle Eigenständigkeit gelegt. Brasilien wurde literarisch vermessen. Sprachliche Elemente der indianischen und afrikanischen Wurzeln wurden von Mario de Andrade (1893-1945), dem sogenannten „Papst des Modernismo“, in die Poesie aufgenommen neben der systematischen Verwendung des freien Verses.

Durch die Ablehnung der Tradition Portugals wurde bald die für lateinamerikanische Literatur charakteristische Entdeckung gemacht, unmittelbar an den Fundus der Weltliteraturen anknüpfen zu können, daraus zu schöpfen und die brasilianischen Eigenarten herauszubilden. Unter dem Begriff „Brasilidade“ wurde der Blick auf die brasilianische Identität der Gegenwart frei, die auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit vierzig Gastautoren aus Brasilien vorgestellt wird. Zu diesem Anlaß hat das Berliner Haus der Kulturen der Welt bereits im Frühjahr drei Gruppen mit brasilianischen Autoren zu ersten Lesungen ihrer Werke, Seminaren, Konferenzen und Diskussionsrunden eingeladen und eine Anthologie mit poetischen, essayistischen und Prosaarbeiten veröffentlicht, die thematisch zusammengestellt sind als Stationen auf einer rastlosen Reise durch das vielfältige Kontinentland.

Der Amazonas ist der landschaftliche Ausgangspunkt der essayistischen Erzählung „Nachdenken über eine Reise ohne Ende“ von Milton Hatoum, wonach die gesamte Texte- Sammlung benannt wurde. Darüber lagert sich „ein poetisches Manifest über das Anderssein“ eines Wanderers zwischen zwei Kulturen und über die Möglichkeiten der Sprache selbst.

DER BLICK DAHINTER

Vom Lokalkolorit der Urwaldlandschaft erzählt ein Europäer, der nah am Äquator in Manaus lebt und ge-, beten wird, Französisch zu unterrichten. Allerdings tut er dies, indem er mit dem späterhin reisewilligen Protagonisten die Verse Verlaines nach Rhythmus und Melodie durchforstet: „Auf den ersten Blick ist der Wald eine dunkle Linie, mit der nicht viel anzufangen ist. Doch mitten in der Dunkelheit gibt es eine Welt in Bewegung, Millionen von Wesen, Licht und Schatten.“ Der innere Reichtum führt zur Selbsterkenntnis des Sprachschülers und Reisenden, der auf einer verfallenen Fassade jenen seltsamen Satz findet: „Die Natur lacht über die Kultur.“ Die natürliche Ursprungskraft von Sprache und Erkenntnis birgt die eigentlichen Geheimnisse einer Reise, auch in der anderen Sprache oder einer fremden Literatur: „Die Vorstellungskraft nährt sich von fernen Dingen in Raum und Zeit.“ Der Französischlehrer im Amazonas fügt dem noch hinzu: „Das Reisen macht den Menschen nicht nur ruhiger, es macht seinen Blick klarer. Die Stimme des wahren Reisenden hallt im stillen Fluß der Zeit wider.“

Der Autor Milton Hatoum, Jahrgang 1952, ist Professor für französische Literatur an der Universität Manaus und behandelt in seinem jüngsten Roman „Emilie oder Der Tod in Manaus“, der auf Deutsch vorliegt, auch die Konflikte der orientalisch-arabischen in der tropischbrasilianischen Welt. Aus dem Südstaat Rio Grande do Sui hingegen kommt der Schriftsteller und Arzt Moacyr Scliar, Jahrgang 1937, der seinerseits vom jüdischen Leben und dem Einfluß jüdischer Traditionen im südbrasilianischen Alltag schreibt, meist lokal verankert im von osteuropäischen Einwanderern geprägten Stadtviertel Bonfim seiner Geburtsstadt Porto Alegre.

Die asiatische Dimension Brasiliens thematisiert sowohl der 1937 in Caratinga im Bundesstaat Minas Gerais geborene Autor und Cartoonist Ziraldo Alves Pinto in seiner Kurzprosa „Der Haikai“ als auch die 1937 in Eritrea gebürtige Journalistin und Schriftstellerin Marina Colasanti in ihrer Erzählung „Der Seidenvulkan“. Beide Autoren leben heute in Rio de Janeiro, wo neben der anderen Metropole Säo Paulo die Auseinandersetzung mit der Kultur der japanischen Einwanderer literarisch stattfmdet.

Auf der schier endlosen Reise von insgesamt zwanzig Autoren, die alle von der unerschöpflichen Kreativität Brasiliens erzählen, haben wir es mit faszinierenden Einblicken von Geometern des Lebens und brasilianischen Alltags zu tun.

NACHDENKEN ÜBER EINE REISE OHNE ENDE

Brasilien literarisch.

Hrsg, von Ute Hermanns!Kurt Scharf. Babel Verlag, Berlin 1994.

191 Seiten, öS 171,-.

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