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Die neue Kunsterziehungsbewegung in Deutschland

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Der durch Leo Weismantel im Auftrage des hessischen Kultusministeriums 1949 veranstaltete Kunstpädagogische Kongreß in Fulda, an dem weit über tausend Kunsterzieher teilgenommen haben, hat der Kunsterziehungsbewegung in Deutschland nach ihren Anfängen in den neunziger Jahren und nach ihrem Wiederaufgreifen in den zwanziger Jahren einen neuen Auftrieb gegeben. Seither hat nicht nur eine Reihe lokaler Veranstaltungen stattgefunden, so zum Beispiel eine Arbeitswoche in der 1946 für solche Zwecke errichteten Erziehungsstätte Fredeburg in Westfalen, sondern man ist unter der Leitung Emil Betzlers, Frankfurt, auch zur Bildung eines Bundes deutscher Kunsterzieher geschritten, der heute das Forum der gesamten Fragen der Kunsterziehung in Deutschland darstellt. Nunmehr sind auch einige Hefte eines Organs dieser Vereinigung erschienen, das sich (in Anlehnung an eine bereits 1907 ins Leben gerufene und zu Anfang der dreißiger Jahre eingestellten Zeitschrift) „Kunst und Jugend“ nennt und das sich aus organisatorischen Gründen mit einer anderen Fachschrift, »Die Gestalt', verbunden hat.

»Musische Erziehung“ ist die Grundhaltung der ganzen Bewegung wie auch schon auf dem Fuldaer Kongreß, dessen Hauptreferate übrigens vor kurzem unter gleichem Titel im Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart, erschienen sind.

»Ein Volk ohne Kunst ist krank in seiner Wurzel , führte der ‘alte Hamburger Kunstpädagoge Otto Wommelsdorf in seinem Referat auf der Fredeburger Tagung »Kunst und Kunsterziehung aus (erschienen im ,Aloys-Henn-Verlag, Ratingen), »es kann ein neues Verhältnis zu ihr nur gewinnen aus einer neuen Lebenshaltung … Da Kunst so umfassend alles Menschenwerk umgreift, begegnet uns ihre Frage auf allen Wegen. Sie richtet sich an die Mutter im Heim. Hier schon ann in täglichem Mühen künstlerische Besinnung und künstlerisches Tun geschehen. So beginnt überall die Aufgabe, wie im Haus, so in der Schulstube, so auch im Betrieb und auch in der Kirche.

An gleicher Stelle und in ähnlichem Sinne äußerte sich Curt Scholz:

»Unter den Erziehungsgrundsätzen der einseitig intellektuellen Lernschulė wird Kunsterziehung nie über die Bedeutung eines Nebenfaches hinauskommen … während Ganzheitserziehung immer auch zugleich eine grundsätzlich musische Erziehung ist und die Gestaltungskräfte der Seele, besonders aber die künstlerischen, als das Prinzip erkennen wird, das mindestens für die Hauptphasen der jugendlichen Entwicklung in seinen verschiedenen Möglichkeiten und Formen das befruchtende und tragende Element aller Erziehungsarbeit zu sein berufen ist.

Nach Bet zier — auf den übrigens auch die Bebilderung des neuen in zwölf Bänden nunmehr abgeschlossenen Lesebuchwerkes »Die Silberfracht (Hirschgraben-Verlag, Frankfurt a. M.) sowie deren nach neuartigen Gesichtspunkten erfolgten Erläuterungen zurückgehen — handle es sich bei der kunsterzieherischen Arbeit darum, »die urtümlichen Bildkräfte des Kindes selbst aus dem Sein und Wachsen heraus noch genauer zu erkunden, als es bisher geschehen“. Bisher waren die Kunsterzieher in zwei große Lager gespalten. Es sollen aber nicht die „Modernen" gegen die „Alten“ ausgespielt werden. Der Schaffensdrang des Kindes sei weder einzig und allein auf säuberlichen Formenaufbau noch ausschließlich auf ungehemmte expressive Entladung gerichtet. Man solle vielmehr die ganzheitliche Natur des jungen Menschen im Sinn haben, «eine individuellen Unterschiede sorgsam beobachten und zugleich bedenken, daß schrankenloses Freilassen weder dem sinnvollen Reifen des Heranwachsenden diene noch dem gemeinsamen Leben aller. Auch da« Problem der Umweltsgestaltung (Haus, Wohnung, Gerät, Kleidung) müsse, wie Erich Rhein — an gleicher Stelle — hervorhob, eines der wesentlichsten Anliegen der Erziehung sein.

Lassen wir Emil Betzler (nach „Bildnerische Erziehung", Metopen - Verlag, Wiesbaden) weiter zu Wort kommen:

„Das Leben des Kindes wird von Bildvorstellungen in einem Maße beherrscht, von dem die meisten Erwachsenen kaum etwas ahnen. Diese intuitiven Bilder aus der Schicht des Unterbewußten wirken hinüber in sein gesamtes Schauen und Tun; es vermag sie mit Linien, Farben oder plastischen Formen zu realisieren. Mit welcher nachtwandlerischen Sicherheit. ihm dies gelingt, vermögen wir Großen nicht zu fassen, aber wir spüren, wie überaus notwendig es für die Entfaltung seiner Seele und seines Geistes ist, es so lange als möglich in diesem seinem ureigensten Reiche zu lassen.“

Am ausführlichsten behandelt Betzler diese Fragen in seinem Buch „Neue Kunsterziehung" (Hirschgraben • Verlag, Frankfurt a. M. 1949), in dem er das Wesen bildnerischen Gestaltens untersucht, die Stufen der bildnerischen Entfaltung, die Entwicklung des Baumbildes, der Farbe, des Tier- und Menschenbildes, die Räumlichkeit, das plastische Formen, die Werkarbeit, das konstruktive Zeichnen, das Schriftgestalten und schließlich auch die mehr theoretischen Fragen, wie die psychologischen Voraussetzungen, die Begabungsfrage, Werkstoff und Werkverfahren und viele andere.

Uns interessiert aber besonders die Untersuchung, die er in diesem Zusammenhang der Kunstbetrachtung widmet. Schon an anderer Stelle hat er (nach Kerschensteiner) betont, daß die Bildung des Individuums nur durch jene Kulturgüter ermöglicht werde, deren geistige Struktur der jeweiligen Entwicklungsstufe der individuellen Lebensform adäquat sei. Hier fügt er hinzu, daß es aussichtslos bleiben müsse, ein Kunstwerk von den mit ihm verknüpften außerkünstlerischen Sachverhalten her fassen zu wollen. Und er «teilt grundsätzlich fest:

„Die heutige Pädagogik bricht daher mit der alten Gepflogenheit, durch Aussagen über den gegenständlichen oder gedanklichen Inhalt eines Werkes, über seine kultur- oder sozialgeschichtlichen Zusammenhänge, über seine psychologische oder philosophische - Bedeutung und dergleichen seinen eigentlichen Wesensgehalt fassen zu wollen. Alle diese Betrachtungsweisen haben durchaus ihren Nutzen, sie müssen aber zu irrigen Vorstellungen vom Wesen der Kunst führen, wenn nicht zugleich das Kernproblem der künstlerischen Gestaltwerdung erkannt wird. Dies aber ist einzig und allein vom musisch empfindenden und denkenden Auge her möglich. Immer noch wird in unseren Schulen allzuviel um die Kunst herumgeredet und deshalb ihr ureigenster Lebensquell gar nicht aufgespürt. So wird das Buchwissen über außerkünstlerische Nebenumstände vielfach bereits für Kunstverständnis gehalten. Die

Gefahr aber ist dabei, daß mit solcher Kunstbetrachtung der einzig offene Zugang zu den Werten der musischen Gestaltbildung vom ,nachschaffenden‘ Auge her versperrt wird. Kunst verstehen heißt demnach nicht, sie aus den geschichtlichen oder weltanschaulichen Zusammenhängen .erklären' zu wollen, so wissenswert und wichtig diese Zusammenhänge auch sein mögen, vielmehr bedeutet es, ihre Werke in ihrer unmittelbaren Gegenwärtigkeit als sinnlich-geistige Wirkung erleben zu können.

Es steht außer Zweifel, daß bei der Dringlichkeit, die die Lösung dieser Probleme auch bei uns erheischt, bei der Aufmerksamkeit, die diesen Fragen von unseren leitenden Unterrichtsstellen, vor allem in Hinblick auf neue Lehrplangestaltung, Prüfungsordnung usw., geschenkt wird, alles, was auf diesem Gebiet auch außerhalb unserer Landesgrenzen vor sich geht, von uns mit größter Aufmerksamkeit verfolgt werden muß, zumal die Aufgaben, um die es hier geht, heute in allen Kulturländern dieselben zu «ein scheinen.

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