6761809-1968_19_14.jpg
Digital In Arbeit

DIE PARISER IN WIEN

Werbung
Werbung
Werbung

Französische Kunst dominiert derzeit in Wien auf allen Linien: Picasso in der Weißkirchnerstraße, Leger im Schweizergarten. Und die französische Musik des 20. Jahrhunderts bestimmte eine Woche Wiens Konzertleben. Die „Woche zeitgenössischer französischer Musik”, veranstaltet von der hoch aktiven österreichischen Gesellschaft für Musik und ihrem Leiter, Dr. Harald Goertz, zusammen mit der Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien, dem Institut Franęais, der Wiener Konzerthausgesellschaft, dem Museum des 20. Jahrhunderts, der Musikalischen Jugend, dem österreichischen Rundfunk und dem Ensemble „die reihe”, hat ein wenig vom Pariser Kunstklima nach Wien gebracht und mit einem massiven, ja einem Momstereinsatz der Prominenz begonnen: Geführt von ihrem Doyen Darius Milhaud, dem Grandseigneur der französischen Musik, stellte sich, gleich am Eröffnungstag im Palais Palffy die eine Hälfte der eingeladenen Komponisten Frankreichs vor: so Jean Barraque, Jacques Charpentier, Marius Constant, Henri Dutiileux, Andrė Jolivet. Es war eine erste intensive Kontaktnahme mit den Repräsentanten des Wiener Musiklebens. Die anderen. Komponisten, Gilbert Amy, Franęais Bayle, Andrė Boucou- rechliev, Luc Ferrari, Bernard Gavoty, Betsy Jalas, Ivo Malec, Olivier Messiaen, Francis Miroglio, Bernard Parmeigiani, Guy Reibel und Pierre Schaeffer stellten sich im Lauf der Woche ein. Die Pariser Kritikerprominenz, vertreten durch Robert Siohan von „Le Monde”, und Antoine Golėa, assistierte.

Marcel Landowski, musikalischer „Inspecteur General” in Andrė Malraux’ Kulturministerium, eröffnete den informativen Teil mit einem Bericht, wie die französische Regierung die Krise im Musikleben des Landes zu steuern trachtet: Dezentralisation, Schaffung regionaler Musikzentren, sofern diese noch nicht bestehen, Ausbau des kulturellen Lebens in den Provinzen durch musikalische Lyzeen, Subventionen an alle Orchester, Intensivierung von regionalen Festivals, weitere Hebung des Niveaus der Konservatorien sollen das Verständnis des Publikums für Musik, besonders für neue, verstärken. Wieviel dieses monumentale Reformprogramm kostet, konnte man leider nicht erfahren.

Gleich in der ersten Diskussion zwischen Marcel Landowski, Antoine Golėa, Professor Helmut A. Fiecbtner und Professor Hans Heinz Stuokenschmidt (Berlin), der die Gespräche gewohnt souverän und sachkundig leitete, wandten sich der Wiener und der deutsche Gesprächspartner dem auch für Wien aktuellen Thema: „Reform der Pariser Oper” zu.Resultat: Krisen überall, in Paris besonders geschürt durch häufige Arbeitsunwilligkeit des Ensembles und des Personals. — So Antoine Golėa.

Insgesamt hörte man einen Vortrag von Darius Milhaud, zwei umfangreiche Diskussionen, in denen die Komponisten sich dem Publikum mit Erläuterungen zu ihren aufgeführten Werken stellten und Grundsätzliches über die Möglichkeiten des Komponierens heute sagten, schließlich ein Referat von Pierre Schaeffer, dem Leiter der „Groupe de Recherches Musicales”, der die Krise der Neuen Musik zu erhellen versuchte.

Gemäßigte Modeme präsentierte das erste Konzert im Großen Sendesaal von Radio Wien: Altmeister Darius Milhauds dreisätzigie „Musik für Prag”, 1965 entstanden und nicht gerade eines seiner repräsentativsten Werke in der Reihe der „Städtemusiken”, bedient sich der knappen Symphonieform mit konzertanten Akzenten. Marius Constant war mit seinen „Preludes” vertreten, die Leonard Bernstein gewidmet sind. Es sind sozusagen Mikroorganismen, die sich zu einem Großkomplex zusammenschließen. Jacques Charpentier, dessen Konzert für Ondes Martenot und Orchester man hörte, wurde 1933 in Paris geboren, studierte Musik bei Messiaen und in Indien. In diesem Konzert strebt Charpentier eine Synthese von indischen Tonarten und Zwölftontechnik an. Henri Dutiileux’ „Metaboles”‘, fünf „Umsetzungen”, ein Auftragswerk des Cleveland Orchestra, hinterließen den stärksten Eindruck des Abends. Die Mutationen, die den großen Rahmen bestimmen, spiegeln sich innerhalb der einzelnen Abschnitte. Andrė Jolivet, 1905 in Paris geboren, Schüler Varė- ses und mit Messiaen, Daniel Lesur und Yves Baudrier Gründer der Gruppe „Jeune France” (1935) hat sich eine Rückkehr zur humanen Komponente der Musik zur Aufgabe gestellt.

In Wien präsentierte er seine 3. Symphonie.

Der Ruf des Pariser „Domaine Musical” als eines der besten Ensembles für Neue Musik hat sich in beiden Wiener Konzerten, im Palais Lobkowitz und im Mozartsaal, bestätigt: 1954 von Pierre Boulez gegründet, dann kurze Zeit herrenlos, wird die Gruppe seit 1967 von dem 32jährigen Milhaud-Schüler Gilbert Amy geleitet, einem souveränen Schlagtechniker, der, selbst Komponist, mit allen Fragen der dodekaphonen, seriellen, aleatorischen Musik vertraut ist

Besonders was die Aufführungspraxis betrifft. Vor allem aber ist er ein vitaler Künstler, für den jede noch so schwierige Komposition nicht nur gedankliche Leistung bleibt.

Das Ensemble selbst, eine Formation aus technisch brillanten, hochmusikalischen Solisten, gestaltete beide Abende mit exzellentem Geschmack, virtuosem Können. Man sollte es in Hinkunft wenigstens für zwei oder drei Abende pro Saison nach Wien bitten. Die Kontakte würden sich als fruchtbar erweisen. Und man sollte speziell auch das Parennin-Streich- quartett einladen, das im Palais Lobkowitz Pierre Boulez’ „Livre” und — als Uraufführung — Francis Miroglios Quartett sehr sachlich, farbintensiv, klangschön vorexerzierte.

Francis Miroglio, 1924 in Paris geboren, Milhaud-Schüler, hat mit Werken wie „Allotropie”, „Espacas”, „Fluctuances” Aufsehen erregt. Sein vierteiliges Streichquartett, das simultan mit Projektionen von Bildern Juan Mirös abläuft, frappiert durch enorm spannungsgeladene, fast artistische Faktur, durch eine Fülle von Einfällen in der Verarbeitung des knappen Materials. Lediglich die „Inszenierung” durch Bildmaterial scheint unorganisch; um so mehr, als der Hörer vom komprimiert gefaßten satztechnischen Geschehen abgelenkt wird.

Imponierend war auch die Wiedergabe von Jaunis Xenakis’ „Eonta” (Das Seiende) für Klavier, zwei Trompeten und drei Posaunen: Etliche Partien des 1963/1964 in Berlin komponierten Stücks basieren auf Rechenergebnissen eines IBM- Elektronengehirns 7090. Die musikalische Entwicklung ist von sogenannter „stochastischer” (Wahrscheinlichkeits-) Musik und „symbolischer” Musik bestimmt.

Im Mozartsaal hörte man den „Domaine Musical” mit fünf Stücken: bekannten, wie Messiaens „Couleurs de la Cite celeste”, 1963 komponiert, 1964 in Donaueschingen uraufge- führt, und Edgar Varėsas „Integrales” (1923); neuen wie Betsy Jolas’ Piece „Aus einer Reiseoper”, Andrė Boucourechlievs „Archipel I”, für zwei Klaviere und Schlagzeug — beide Werke waren für Wien wertvolle Entdeckungen —, oder Gerard Massons „Ouest”, eine Uraufführung.

Die Milhaud-Schülerin Jolas hat in ihrem Stück den Instrumenten rein „vokale Komponenten” abgewonnen, so daß sie sich in opemhaftem Spiel bewegen, bald burlesk, bizarr, bald heroisch-pathetisch. Alles in allem: mit Esprit, virtuoser Kenntnis der Möglichkeiten fabriziert.

Von großer Ausstrahlungskraft ist „Archipel I”; 1967 für das Festival von Royan komponiert, hat es eine Partitur gleich einer Meereskarte, deren Strömungen und möglichen Routen die vier Solisten folgen. Es ist ein Musterstück streng gelenkter Aleatorik, also des Zufalls, wobei sich der bevorstehende Weg jeweils aus den vorher gehenden Aktionen ergibt. Massons „Ouest” für 10 solistisch geführte Instrumente entfaltete stellenweise große Reize, wirkte aber im ganzen doch zu arithmetisch und viel zu lang.

Yvonne Loriod gemeinsam mit ihrem Gatten Olivier Messiaen Klavier spielen zu hören, zählt zu den wirklichen Erlebnissen. Besonders wenn sie, wie im Sendesaal Messiaens „Visions de l’Amen” (1943) vartragen. Es gibt kaum andere Interpreten, die diese mystisch-leidenschaftlichen „Szenen” voll Edelsteinglanz, Weihrauch, dumpfem Glockendröhnen in solch raffinierten Schattierungen gestalten könnten.

Der Pariser „Groupe de Recherches Musicales” war das letzte Konzert im Museum des 20. Jahrhunderts Vorbehalten: Reine Tonbandmusik von Pierre Schaeffer („Etüde aux objets”, aus 50 Klängen zusammengestellt), Bernard Parmegiani („Capture ėphėmėre”, eine Piece, die die Verselbständigung von Klängen ausnützt), Guy Reibel („Antinote”, 1967 entstanden, ein Versuch, neue zeitliche Dimensionen innerhalb des Materials zu kreieren) wurden gemischt besetzten Kompositionen gegenübergestellt. Gerade sie, in denen der Hörer durch den Kontrast in der Besetzung mit Singstimme, Instrumenten und Tonband angezogen wird, erwiesen sich am stärksten: Ivo Malec’ „Cantate pour eile”, für Sopran, Harfe und vierspuriges Tonband, lebt vom Gegensatz: Fragile lyrische Gesangspassagen vermischen sich mit dem schwerelosen Zittern der Harfe, dem Zwitschern des Tonbandes. Auch Luc Ferraris „Und so weiter…”, für elektrisch verstärktes Klavier, ein paar Schlaginstrumente und Vierspurtonband, ein hartes, abgehacktes Stück in grellen Farben, das sich Zug um Zug, wie ein musikalisches Schachspiel abwickelt, kam dem Hörer entgegen: Ein paar Takte des Donauwalzers kenterten im Clustergetümmel. So imponierend diese Arrangements auch technisch gestaltet waren, kannte man sich doch des Eindrucks nicht erwehren, es oft mit toter Materie zu tun zu haben. Was als Begleitmusik fasziniert, verkehrt sich, um seiner selbst willen aufgeführt, ins Gegenteil: Es wirkt abstrakt.

Alles in allem war es eine Woche fruchtbarer Begegnungen, voll von Gesprächen, Anregungen. Ein Musterbeispiel, wie internationale Kulturkontakte sinnvoll ausgeweitet werden können. Man müßte sie intensiv weiterpflegen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung