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DIE „WIDERSTREBENDE ANMUT“

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Die Hafenstadt an der Adria ist gemeiniglich als Handelsemporium und Transitumschlagplatz im Güterverkehr zwischen Mitteleuropa und dem Nahen und Fernen Osten bekannt und geschätzt. Zeitweise stand sie auch im Kreuzfeuer politischer, ja geopolitischer Interessen und wirtschaftlicher Machtkämpfe. Zum anderen ist sie aber auch ein Kreuzpunkt verschiedenartiger Kulturen und Durchgangspunkt, ja ein wahrer Schmelztiegel recht vielgestaltiger, bunt gemischter Völkergruppen und Rassen. Es konnte da wohl nicht ausbleiben, daß jedes kulturelle Schaffen sich hier, auf diesem äußerst bewegten geschichtlichen Boden, vor ganz besondere Aufgaben gestellt sah. Nicht nur galt es, in zähem geistigem Kampfe, fast so wie der Landmann des karg-felsigen Karstes seinen Ackerboden, auch auf geistig-kulturellem Grund und Boden ein lebensfähiges, eigenständiges und bleibendes Kulturgut durchzusetzen und zu erhalten. Dazu kam in erster Linie auch die von Generation zu Generation übermachte Aufgabe, die Eigenart des Triester Kulturschaffens im Rahmen der gültigen Werte des italienischen Mutterlandes unter Beweis zu stellen. Mannigfach waren daher die Verbindungen und Beziehungen zwischen Triester Dichtern und Schriftstellern mit Kulturzentren des Mutterlandes, so vor allem mit dem Dichterkreis um die Florentiner Zeitschrift „Voce“, um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert —, eine Zeit, die wir hier besonders im Auge haben.

Die Beziehungen und Berührungspunkte zwischen der ita- lienisch-triestinischen und der deutschsprachigen literarischen Kultur sind zwar durchaus nicht gering und fruchtlos, aber nicht so folgenreich gewesen, wie etwa mit der französischen und englischen Literatur. Gewiß beherbergte Triest im Laufe der Jahre so manche deutsche Dichtergestalt, wie etwa Ricarda Huch, Hamerling, Däubler und Rilke im nahen Schloß Duino — gerade letztgenannter hielt sich aber von der Stadt Triest selbst zurück. Der Franzose Stendhal verlebte einige Jahre in Triest, als Konsul seines Landes, bis er auf Betreiben Metternichs seinen Triester Aufenthalt abbrechen mußte. In späteren Jahren war es James Joyce, der etliche Jahre in Triest verbrachte, als Englischlehrer an der damaligen Handelshochschule. Seine beiden Kinder kamen in Triest zur Welt, hier auch beendete er seinen Roman „Uiysses“. Bedeutungsvoll wurde seine Freundschaft mit einem der international bekannten Triester Romanciers, Italo Svevo, für dessen Roman „Coscienca di Zeno“ Joyce in Paris zusammen mit Larbaud, erfolgreich warb. Nicht selten sind persönlich-literarische Beziehungen zwischen Triester Dichtern und französischen Schriftstellern bis auf den heutigen Tag. Zumeist erscheinen auch als erste fremdsprachige Ausgaben der Triestiner literarischen Herolde zuerst solche in französischer Sprache als in anderen.

Gewiß hat es schon seit den Tagen der Humanisten, vor ellem’ dann zur Zeit des „Risorgimento“ bedeutende geistige Persönlichkeiten Triester’Prägung gegeben.-Man denke etwa fifa die Gestalt eines Domenico Rossetti. Doch war es vorliegend ein auf die allgemeinen kulturellen Werte italienischer Tradition bedachter Schriftstellerkreis, ohne eine eigentliche literarische Tendenz.

Allgemein gelten zwei Schriftstellerpersönlichkeiten, an sich recht verschiedener Natur- und Geistesart, als „Vorläufer“ einer bodenständigen, ursprünglich triestinischen Literatur, die sich zu Beginn unseres Jahrhunderts durchzusetzen und im Verlauf der letzten dreißig Jahre zu bewahrheiten begann: Scipio Slataper und Italo Svevo, und zwar der junge Svevo, der Autor der beiden Romane: „Una Vita“ (Ein Leben) und „Senilitä“ (Ein Mann wird älter). Als Sohn einer Italienerin und eines Südslawen, gebürtiger Triestiner echten Wassers, kann Slataper füglich als Herold der schicksalshaften Problematik und Wesensart des Triester dichterischen Schaffens angesprochen werden, das aus fast unüberbrückbar scheinenden Gegensätzen und Widersprüchen, wie es Natur und Geschichte der Stadt offenbaren, ein wenn auch spannungsgeladenes, buchstäblich von Tag zu Tag neu zu erkämpfendes geistig-seelisches Kraftfeld zu gestalten und zu bewahren sucht. Aufschlußreich ist eine Briefstelle Slatapers, dessen autobiographisch fundiertes Dichterwerk den bedeutungsvollen Titel „II mio Carso“ trägt (Slataper war im ersten Welktrieg italienischer Freiwilliger und ist an der Front von Podgora Görz gefallen). Es heißt hier:

„Ich kann folgende Wesensmerkmale meiner Naturanlage nicht vergessen: Vor allem und zuerst bin ich ein Mensch, in zweiter Linie ein Dichter und kein Literat. Dann bin ich ein Triestiner, also ohne literarische Tradition — somit muß ich alles aus mir selbst herausholen, auf dem Boden historischer und ethnischer Gegebenheiten von besonderer Intensität." Oder: „Triest ist ein Durchgangspunkt — in geographischer, historischer Sicht, im Leben der Kultur und auf den Wegen des Handels —, mithin eine Stätte ständigen Kampfes. Jedwedes Ding hat in Triest zwei, drei Seiten, beginnend mit der Flora Triests und bei seinen ethnischen Verhältnissen endend." (Aus: „Scritti politici", herausgegeben von Giani Stuparich, 1912.)

Im Bemühen um eine unverfälscht ursprüngliche Triester Literatur, die der Seele der Stadt gerecht würde, heißt es: „Triest... Wo mag man denn einen Ort finden, in dem das Leben eine so zermürbende Seelenqual einander widerstrebender Kräfte und schmachtender Sehnsucht, ein Ort grausamer Kämpfe und Hilflosigkeiten ist, wie hier? Das ist wahrhaft Triest. Aus Tragödien zusammengesetzt. Man muß seinen ganzen Frieden hingeben, um dieser Stadt Ausdruck verleihen zu können. Triest muß ein Triester Kunstschaffen wollen. Mit freudiger Hingabe an den klaren dichterischen Ausdruck möge Triest, dieses konvulsivisch sich abmühende Leben, das das unsere ist, nachschöpferisch gestalten.“

Diese Worte umschließen eine Art Manifest der Triester Literatur des 20. Jahrhunderts. So verschieden die einzelnen Dichterpersönlichkeiten Triests nach persönlicher Anlage und sachlicher Gestaltung auch sein mögen, eines ist fast allen gemein: Ein bewußt eigenwilliges Schaffen aus dem ureigensten Lebens- und Naturmilieu heraus, das niemals ins rein literarisch gekünstelte, als unecht empfundene absinken soll. Als ihr Antipode muß etwa ein D’Annunzio gelten, so sehr auch seine Stil- und Sprachkunst Anerkennung finden mochte. Im ganzen wird man sagen können, daß ganz im Geiste eines Slatapers, die Triester Dichter und Erzähler einem von vielseitigen Lebensimpulsen getragenen vitalen Pathos huldigen, fast im romantischen Sinne des Wortes, und jedem klassizistischem Bemühen abhold sind, das, zugunsten eines unaufrichtigen Ästhetentums, der wahren „humanitas“ abträglich sein könnte. Keiner hat diese Geisteshaltung vollendeter, rückhaltloser geoffenbart, als Slataper selbst in seinem Werk „Mein Karst“, einem autobiographischen Epos aus dem Leben Triests und seiner bitter-herben Karstnatur, dessen zarte, lyrische Töne etwas Jungfräuliches an sich haben: Ein „Pan“-Bekenntnis seiner Naturheimat.

Auf dem Boden eines echt altösterreichischen Völkergemisches, wie Triest als Stadt um die Jahrhundertwende ihn bot, sind Triests Dichter und Schriftsteller dazu berufen, als erbmäßige Träger oft gegensätzlicher Kulturen die Rolle von Mittlern in europäischem Geiste zu spielen, immer auf der Suche nach einem fixen Punkt in der ewigen Unrast ihres persönlichen und überpersönlichen Geschicks. Letztlich also in dauernder Selbstentdeckung begriffen, dabei von der stillen Ahnung besessen, sich recht eigentlich niemals ganz finden zu können. So wird die Suche nach sich selbst nicht selten zum Selbstzweck. Ihr antiliterarisches Bestreben ist nicht etwa als veristische Achtung des Schönen, sondern als eine ausschließlich dem menschlichen Eigenleben und Erleben zugewandte Weltanschauung des Dichters zu verstehen. Psychologisch-ethische Tiefenschürfung des eigenen Ichs, Selbstbekenntnisse im Dienst feuriger Leidenschaftlichkeit und lebenswarmer Wahrheit menschlicher Bekundung, mit oft stürmischen Ausbrüchen, immer in dramatischer Spannung: dies der gemeinsame Nenner sozusagen der bodenständigen Triester Dichterwelt.

Slataper mit seiner „Sturm- und Drang“-Natur war es, der dem italienischen Mutterlande die Augen dafür öffnete, daß es in Triest so etwas wie eine neue literarische Provinz gab, wert genug, daß sie im Gesamtleben der Nation ins Gewicht falle. Doppelt wertvoll, weil Dichter und Erzähler Triests alles das aus sich selbst herauszuarbeiten hatten, was sonsthin Tradition und einheitlich gestaltetes Milieu als Grundlage zu bieten hatten. Aus dem Triester Dialekt, dem Venezianischen verwandt, mußten sie ihre Schrift- und Dichtersprache herauskristallisieren, verbunden mit einem tiefen Impuls moralisch-ethischer Antriebe. Etwas von jener „widerstrebenden Anmut“ des ganzen Triester Ambiente und seiner Landschaft offenbart sich in allen Triester Dichtern, am allermeisten wohl in den Gedichten des Triester Lyrikers katexochen, Umberto Saba, dessen Gedichtsammlung , „I1, Canzoniere“ (zum Teil auch ins Deutsche übertragen) in oft pastellzarten, von melancholischer Gefühlsstärke getragenen lyrischen Bildern aus dem eigenen Leben, so etwas wie ein allumfassendes Lebensbekenntnis bietet, das universal-menschlichen Charakter hat. Saba war in Triest Inhaber eines versonnen-kleinen Antiquariats, ein parnassischer Treffpunkt von jung und alt. Als Barde seines Geburtsortes Grado, vor allem in dem in gradesischem Dialekt geschriebenen Gedichtband „Canti de l’Isola“ („Insel-Gesänge“), aber auch in seiner Prosa „Isola d’Oro“ und „Gorizia“ hat Biagio Marin über den reinen Lokalkolorit hinaus, ein Bleibend-allgemeinmenschliches poetisch gestaltet, durchzogen von wehmütig-gemütvoller Selbsterkenntnis. Virgilio Giotti ist der Dialektdichter Triests: auch hier verbinden sich meisterhaft leicht hingeworfene, lebensvolle Miniaturporträts aus dem Triester Ambiente mit von gutmütiger Selbstironie durchwirkten Selbsterkenntnissen,

Diese kongeniale Substanz der Triester Dichter setzt sich nun bewußt in zähem Anpassungskampf mit der literarischen Tradition des Mutterlandes Italien auseinander, im Bestreben, sich anzugleichen, ohne den eigenen Wesenszug dabei einzubüßen. Dabei blieb das dichterische Schaffen Triests bis in die letzten Jahrzehnte hinein mehr am Rande der nationalen Literatur, da die nicht ganz assimilierbare Eigenart des Triestinischen in Kunst und Leben stets die Oberhand behielt, im Verband mit fremdem Geistesgut. Italo Svevo (eig. Ettore Schmitz), dessen Vater aus dem Rheinland stammte, eng befreundet mit James Joyce, nimmt eine Sonderstellung ein. Seine zwar durchaus in Triests Eigenart und Sprache verwurzelte Persönlichkeit ist umfassenderer Art, über das als rein Triestinisch empfundene hinausweisend. Svevos Romane haben einen durchwegs psychoanalytischen Grundzug, beladen mit eigenpsychologischer Problematik subtilster innerer Wesensschau und rationaler Ironie. Unbeschadet seiner lebendige!) Schilderung des Triester Ambiente gemahnt seine naturalistische Seite an die Romane Zolas. ‘ ,9;, ......

Svevo hat man oft vorgeworfen, daß seiner Sprache etwas Provisorisches, bloß annähernd Gültiges anhafte, was für einen Giani Stuparich kaum gelten kann, dessen stilistische Formbewußtheit außer Frage steht. Stuparich, der in Prag, Berlin und Florenz Philosophie und Literatur studierte, und ebenfalls italienischer Freiwilliger des ersten Weltkrieges war, begann seine schriftstellerische Laufbahn mit seinen autobiographischen Erinnerungen an seinen im ersten Weltkrieg gefallenen Bruder Carlo: „Colloqui con mio f ratelio“. Sein Werk offenbart am augenscheinlichsten die Übereinstimmung zwischen seiner Dichterleidenschaft und seiner politischen Überzeugung. Neben seinem Triester Bilderbuch „Trieste nei miei ricordi“ („Triest in meinen Erinnerungen“), ein Prosawerk, das nicht zu unrecht in mancher Hinsicht den „Scritti politici“ Slatapers zur Seite gestellt wird, sind sein Roman „Ritorneranno“ („Sie werden heimkehren“), eine Schilderung Triests zur Zeit des ersten Weltkrieges, und vor allem seine Prosadichtung aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, „Simone“, bedeutungsvoll. Auch hier ist psychologische Kleinkunst um die Gestalt der weiblichen Hauptfigur, Maddalena, diesmal aber in der verwickelteren Form einer Darstellung auf zwei Ebenen, der als real empfundenen einer unbestimmten Zukunft und der auf dem Boden der Erinnerungen, verbunden mit echtem Naturempfinden, das Leitmotiv.

Als der Literaturkritiker Triests, in seinem Wirkungsbereich verglichen mit der Sendung eines Benedetto Croce gegenüber den Autoren der „Literatur des Neuen Italien", galt Silvio Benco. In zahlreichen Artikeln und Essays begleitete er das selbstbewußte Schaffen der Triester Dichter und Erzähler und war ein beachtetes Sprachrohr zugunsten der Triester Literatur unseres Jahrhunderts. Heute ist es ein Bruno Maier, der sich um die publizistisch-kritische Wertung des Triester literarischen Wirkens verdient macht, neben Anita Pittoni, die einen Eine-Frau-Verlag leitet, „Lo Zibal- done“, der sich der Herausgabe und Verbreitung schöngeistiger Werke Triests und des Kunstschaffens von ganz Julisch-Venetien zum Ziele gesetzt hat, und gleichzeitig so etwas wie einen „Salon“ als Treffpunkt Triester Dichter, Maler und Musiker offenhält. Mario Nordio darf als Altmeister Triester Publizistik und fliegender Reporter europäischen Formats nicht vergessen werden. Sein kürzlich vom „Ente Provinciale Turismo“ in Triest herausgegebenes gefälliges Büchlein über die „Triester Landschaft“, gesehen mit den Augen Triester Künstler und Dichter, ist ein Kabinettstück Triester Wesensart.

. Es braucht wohl nicht erst gesagt zu werden, daß der begrenzte Rahmen dieses literarischen Essays keineswegs auf Vollständigkeit Anspruch erheben kann. Dem aktuellen Interesse gehorchend, soll nur noch zweier literarischer Persönlichkeiten der Gegenwart gedacht werden: Des noch sehr jungen Dozenten für Germanistik an der Universität Turin, des Triestiners Claudio Magris, dessen literarkritisches Werk soziologisch-historischen Charakters: „Der Habsburg-Mythos in der österreichischen Literatur der Neuzeit“, in einem Neuland der Historiographie eines B. Croce folgt, während der in Rom lebende Triester Romancier Renzo Rosso mit seinem Roman „La dura spina“ („Der scharfe Dorn“), einer introspektiv-subtilen Darstellung der besonderen Problematik eines alternden Pianisten, die Richtung eines Svevo- Proust einschlägt.

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