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Ein genialer Visionär

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Er ist wohl das faszinierendste Allround-Genie der abendländischen Kulturgeschichte. Im 67. Lebensjahr schaffte Leonardo da Vinci Ölgemälde, die zu Ikonen der Kunstgeschichte werden, entwirft für Sultan Rajasid II. einen Plan für eine 350 Meter lange Brücke über das Goldene Horn, erforscht den Vogelflug und seziert nachts in Leichenschauhäusern heimlich Kadaver, um anatomische Studien zu machen.

Vor Hauptwerken Leonardo da Vincis wie der „Mona Lisa” im Lou-vre stehen täglich Schlangen von Menschen. Dabei sind die Gemälde, von denen nur vier als Originale unumstritten sind, nur ein Bruchteil seiner schöpferischen Realisierungen: Mit seinen Erforschungen, Ideen und Visionen hat er als Künstler, Wissenschaftler und Erfinder eine neue Sicht der Welt entworfen. Viele seiner Neuerungen wrurden erst im 20. Jahrhundert realisiert. Der Renaissance-Biograph Vasari gab dem 1452 im kleinen, italienischen Dorf Vinci geborenen Leonardo auf Grund seines universellen Talents den Beinamen der „Göttliche”.

In einer Ausstellung des Historischen Museums in den neu restaurierten Bäumlichkeiten des Wiener Schottenstifts hat man nun die Möglichkeit, die vielen Gesichter der beeindruckenden Renaissance-Persön-lichkeit kennenzulernen. Im Mittelpunkt der Schau mit dem Motto „Leonardo zum Angreifen” steht der Pionier von Wissenschaft und Technik.

Mit unermüdlicher Neugier, dem Wunsch, die Geheimnisse der Welt wissenschaftlich zu erforschen und seinem Erfindungsgeist erscheint uns

Leonardo wie ein Zeitgenosse. Seit seiner Jugend versuchte er Fortbewegungsmittel für den Menschen zu erfinden- mit seinen Entwürfen gilt er als Urvater aller moderner Transportmittel. Leonardo studierte den Vogelflug und versuchte Flugmaschinen zu konstruieren. Eine der ersten Erfindungen war die Luftschraube - ein Vorläufer unseres Helikopters.

Seine ersten Flugmaschinen fußten jedoch auf der falschen Annahme, der Vogel fliege durch Schlagen der Flügel nach unten und hinten. So entwarf er ein Schwingenflugzeug mit beweglichen Flügel. Erst im Alter fand er zu einem Entwurf, der einem heutigen Flieger näher kommt: Er entwickelte eine Konstruktion mit starren Flügeln. Leonardo erfand auch den ersten Fallschirm - in Form eines pjTamidenförmigen Schirms.

Seine bekannteste Erfindung ist sicherlich die des „Automobils” sowie des Getriebes, das als Vorläufer des modernen Autogetriebes gilt.

Auch Wasser war ein Element, das Leonardo zeitlebens faszinierte. Im Alter von 19 Jahren entwickelte er ein

Schöpfrad, mit dessen Hilfe Wasser in einem Wasserturm nach oben befördert werden konnte. Als der Doge von Venedig Leonardo gegen die türkische Flotte um Hilfe bat, kam er auf die revolutionäre Idee, die Fortbewegungsmöglichkeiten des Menschen unter Wasser zu verbessern und erfand neben einer Urform des Unterseeboots eine Reihe noch heute modern wirkender Taucherbehelfe wie Schwimmflossen, Rettungsring, Taucheranzug und Atemgerät.

Leonardos wissenschaftlicher Forscherdrang machte ihn zum bedeutendsten Anatom des 16. Jahrhunderts. Nächtelang verbrachte er als erster Künstler, der den menschlichen Körper sezierte, heimlich auf dem Friedhof von Mailand. Die Sektion -heute eine Notwendigkeit für junge Medizinstudenten - wurde von der damaligen Geistlichkeit scharf verurteilt. Leonardo ließ sich jedoch weder von dem Gefängnis - im Fall einer Entdeckung - noch von „einer Nacht in Gesellschaft dieser schaurig anzusehenden toten, und zerstückelten und gehäuteten Körper abschrecken ”.

Er zersägte Knochen und Schädel und häutete die Leichen, um die Nerven und das Muskelsystem zu studieren. Das Ziel seiner Forschungen war nicht nur anatomisch, sondern auch physiologisch und morphologisch.

Bedeutend sind nicht nur die theoretischen Untersuchungen, sondern vor allem auch das bild-auciiiv hafte Festhalten der

Forschungsergebnisse. Der Künstler Leonardo zeichnete, was der Anatom herausgefunden hatte. Auf mehr als 200 Blättern entstand eine anatomische Darstellung des menschlichen Körpers von unglaublich plastischer Eindringlichkeit und wissenschaftlicher Exaktheit, wie sie bis zum 18. Jahrhundert von niemand anderem erreicht wurde. Zugleich sind die Studien vom Inneren des Menschen Meisterwerke der Zeichenkunst.

Gerade die Verbindung von wissenschaftlicher Erkenntnissuche und künstlerischem Denken macht Leonardo zu einer Kultfigur unserer Tage. Die heute in vielen Bereichen erforderte Flexibilität und multimediale Vielseitigkeit, sowie die Fähigkeit, unterschiedlichste Disziplinen zusammenzuführen, hat der uneheliche Sohn einer Bauerntochter und eines Florentiner Notars bereits vor 500 Jahren auf geniale Weise besessen. (Bis 2. Februar 1997)

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