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Ein Kunstwerk stirbt

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Seit Monaten gehen beunruhigende Nachrichten über den Zustand von Leonardo da Vincis „Abendmahl“ durch die italienische Presse. D a s Bild der Menschheit, „der höchste malerische Ausdruck aller Zeiten und der menschlichen Kultur überhaupt“, „le premier tableau du monde et le chef d'oeuvre de la peinture“, liegt im Sterben zwischen drei Ärzten: der Sov-raintendenza ai Monumenti, der Sovrain-tendenza alle Gallerie und dem Istituto Nazionale del Restauro. Während das Istituto gewissermaßen ausführendes Organ ist, hat die erstere über die Mauer zu wachen, auf der das Fresko gemalt ist, die zweite aber über das Bild selbst. Tragische Überschneidung der Zuständigkeiten, verhängnisvolle Entschlußlosigkeit.

In der Nacht zum 15. August 1943 fielen drei Bomben auf Kirche und Kloster Santa Maria delle Grazie. Die größte, mit einem Durchmesser von 25 Zentimeter, schlug auf das granitene Brunnenbecken in der Mitte des Klosters auf und riß zwei Wände des Refektoriums nieder, in dem sich das Gemälde befindet. Die beiden anderen Wände blieben stehen: jene mit dem Kreuzigungsfresko des Montorfano aus dem Jahre 1495 und die gegenüberliegende mit Leonardos „Abendmahl“. Statt den Sinn des erneuten Geschenkes zu begreifen, begnügte man sich mit einem notdürftigen Schutz: man umkleidete die Mauer mit Erdsäcken und deckte ein Dach darüber, das nur wenige Zentimeter über das Mörtelwerk hinausragte. So blieb das berühmteste Bild der Welt zwei Jahre lang Regen und Schnee, Wind und Temperatursprüngen ausgesetzt, wie sie nur das berüchtigte Mailänder Klima bringen kann. Die Frage war, was früher enden würde: der Krieg oder Leonardos Werk.

Die Befreiung erreichte auch das „Abendmahl“. Die Erdsäcke wurden weggeräumt und alsbald verkündete Rom in einem offiziellen Kommunique der aufhorchenden Welt, daß Leonardo da Vincis Meisterwerk gerettet sei, ein wenig verstaubt zwar, aber unbeschädigt. Das war im Juni 1945. Im darauffolgenden Winter wurde das Refektorium stilgerecht wieder aufgebaut. Dazu legte man unter dem Fußboden eine Rostanlage zum Schutz gegen die Grundfeuchtigkeit. Hierauf schloß man das Refektorium, und nur Gruppen von alliierten Soldaten wurde hin und wieder die Besichtigung des Freskos gestattet, während die Mailänder selbst zu ihrer schmerzlichen Überraschung wegen angeblicher Restaurierungsarbeiten ausgeschlossen blieben.

Am 2. Februar 1946 stattete der Sov-raihtendente alle Gallerie, Modigliani, dem Gemälde einen Besuch ab und stellte bestürzt fest, daß die unbedachten und übereilten Bauarbeiten mitten im Winter, die Tünche und der frische Zement, vor allem aber die Bewegung von etwa 300 Kubikmeter feuchter und fauliger Erde für die Herstellung des Unterrostes dem Bilde sehr geschadet hatten. Die Oberfläche troff von Wasser, die herabrieselnden Tropfen hatten helle Streifen gezogen und die Farbe — die Farbe Leonardos! — abgewaschen. Das Bindemittel der Tempera hatte die Luftfeuchtigkeit des Raumes angezogen und sich mit ihr zu einer Art Brei vermengt. Bei der geringsten Berührung vermischte sie sich mit der Grundfarbe und ließ die baldige Zersetzung voraussehen. Das ganze Gemälde war mit schwärzlichen Punkten von Schimmelpilzen übersät und der graue Belag, den man für Staub gehalten hatte, bestand größtenteils aus den Oxydationsprodukten jener leimartigen Substanzen, die bei früheren Fixierungsversuchen verwendet worden waren.

Modigliani verständigte sofort telegraphisch die vorgesetzte Behörde in Rom und im April traf eine Kommission von Fachleuten ein, die untersuchte, prüfte, erwog. Sie stellte fest, daß beim Eintreten der wärmeren Jahreszeit das Gemälde wohl ziemlich aufgetrocknet war, daß jedoch dafür die Farbe in Lamellen abbröckelte. Es war also eine Befestigung der Farbkörper und Entfernung des Schimmels notwendig. Der Bericht war im Juni fertig und im Laufe des Sommers 1946 traf eine weitere Kommission des Istituto del Restauro ein. Neuer Lokalaugenschein der Sachverständigen, neue Beobachtungen und ein weiterer Bericht, dessen wesentliche Er-kentnis darin bstand, daß eine Rettung des Gemäldes nur bei gleichzeitiger Behandlung der hygroskopischen Mauer möglich wäre. Diese Arbeiten fielen jedoch nicht mehr in die Zuständigkeit des Istituto und der Sov-raintendenza alle Gallerie, sondern in die der Sovraintendenza ai Monumenti. Um das bedrohte Werk entstand nun eine unfruchtbare Diskussion, die komisch hätte anmuten können, wenn ihre Auswirkungen weniger tragisch gewesen wären. Das „Abendmahl“ mußte ohne jede Hilfe einen zweiten Winter überstehen. Das Refektorium blieb weiterhin geschlossen, „wegen R est au rierungs arbeiten“, was den praktisch denkenden Mailändern unverständlich schien, hatte doch die Besichtigung des Bildes bis zum Jahre 1940 jährlich eine halbe Million guter Lire an Eintrittsgeldern gebracht. Man setzte nicht einmal die an der Rückseite der Mauer eingerichtete Heizanlage in Betrieb, die der Meister aller Restauratoren und jahrzehntelange Hüter des „Abendmahles“, Luigi Cavenaghi, seinerzeit als einzig wirksamen Schutz gegen die Bildung des Kondenswassers angesehen hatte.

Im Frühjahr 1947 hatten sich endlich die drei zuständigen Stellen grundsätzlich zu einem gemeinsamen Vorgehen geeinigt. Unglücklicherweise wurde die Erörterung der technischen Probleme in die Presse getragen und von mehr oder weniger kompetenten Fachleuten polemisch ausgefochten, sehr zum Nachteil des Werkes, denn die ohnedies nicht eben entschlußfreudigen Stellen wurden dadurch nicht zum raschen Eingreifen angeeifert Immerhin traf Ende Juni eine neue Kommission unter Führung des Direktors des Istituto del Restauro, Professor B r a n d i, ein, der die drei Vorschläge einer ernsten Prüfung unterzog. Die radikalste Methode entsprach einem chirurgischen Eingriff: Ablösung des ganzen Bildes von seiner Unterlage und Aufstellung an einem gesünderen Orte. Ähnliche Arbeiten waren bei anderer Gelegenheit bereits mit Erfolg versucht worden. Entweder scheute man davor zurück, eine solche „Operation auf Leben und Tod“ zu wagen, oder man wollte das Kunstwerk in seiner Gesamtheit, das heißt in dem ihm eigenen Milieu, erhalten, jedenfalls verwarf man diesen Vorschlag und ebenso den zweiten, die Mauer von der Rückseite her anzuwärmen. Man kam schließlich überein, eine Luftkammer zu schaffen, in der das Gemälde bei einer zwischen 15 und 21 Grad schwankenden Temperatur und bei gleichem Feuchtigkeitsgehalt der Luft aufbewahrt wird. Dazu wird die vermauerte Tür unter der Gestalt des Erlösers, eine grausige Verstümmelung aus der Zeit um 1700, durch welche die Füße des Christus wegamputiert wurden, wieder geöffnet, damit die erwärmte oder gekühlte Luft zwischen dem Refektorium und der Hinterkammer frei zirkulieren kann. Gegen das Refektorium zu wird das Bild durch eine 14 Meter hohe Glaswand abgeschlossen, um es vor dem erhöhten Kohlensäuregasgehalt der Luft und dem Wasserdunst bei größerer Besucherzahl zu schützen. In Zukunft wird man das „Abendmahl“ also nur durch eine spiegelnde und, da es unmöglich ist. eine einzige Scheibe dieser Größe herzustellen, auch unterbrochene Glaswand hindurch betrachten können, eine ziemliche Distanz von dem Bilde entfernt.

Diese neue Ordnung wollte ich nicht abwarten und habe dem „Cenacolo“ einen Abschiedsbesuch gemacht. Es war nicht leicht, den Kustos zu überreden, denn der Zutritt ist dem Publikum „wegen Restaurierungsarbeiten“ immer noch untersagt. Von solchen Arbeiten war jedoch keine Spur zu bemerken. Lediglich eine bewegliche Brücke war anadas Bild herangeschoben und gestattete seine Betrachtung aus nächster Nähe. Durch einen weißlichen Schleier hindurch verlieren sich die Farben wie in einem trüben Nebel und die dramatischen Bewegungen der Apostel werden unbestimmt, ihre Glieder ungreifbar. Klaffenden Wunden gleich überdecken schwärzliche Flecken die Gesichter des Philippus und Jakobus d. Ä. Farbpartikel wehen ab wie Blütenblätter im Frühlingswind. Die blaue lombardische Landschaft, auf die Tür und Fenster den Blick öffnen, verschwimmt im toten Grau des bloßen Mörtels. Steif und leblos die Hände des Erlösers, stumpfgeworden das feurige Auge des Petrus.

Ein Kunstwerk erlischt.

Aber noch in seinen letzten Offenbarungen vermag es zu erhöhen und zu ergreifen. So groß war seine Schönheit und Ausdrucksgewalt.

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