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Eine neue Kunstform

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Das Ahnen des Menschen um das Vergängliche alles Seins treibt ihn seit Urzeit dazu, das Flüchtige des Daseins zu bannen, zu versuchen, den Gedanken zum Wort zu formen, zur Form werden zu lassen, in der Schrift niederzulegen, im Bild, in der Plastik festzuhalten. Die Festhältung des Tons, der Sprache, des Gesanges bleibt durch Jahrtausende unerfüllbarer Wunschtraum des Menschen, der sich nur in unzähligen Sagen wie zum Beispiel vom eingefrorenen Ton, der erst später wieder auftaut, widerspiegelt. So unerfüllbar sdnen dieser Wunschtraum, daß man Edisons ersten Versuch eines Phonographen (1878) zuerst als Bluff eines Bauchredners abtut. Jedoch wurde mit seinem Verfahren der Grundstock zu einer neuen Kunstform gelegt: zur Schallplatte.

Die Entwicklung von der mit Stanniol überzogenen Walze zur runden Wachsplatte vollzog sich schneller als die des Aufnahmegeräts, das aus einem Schalltrichter bestand. Schon 1900 waren über 2,500.000 Schallplatten verkauft, 1902 sind es bereits über 5 Millionen. Jedoch erst 1926 gibt die Erfindung der elektrischen Aufnahme dem Mikrophon, und der elektrischen Wiedergabe durch Plattenspieler und Lautsprecher, der Schallplatte sämtliche Möglichkeiten zur Entfaltung frei.

Parallel mit dieser Entwicklung geht die der Aufnahmetechnik. Während bei dem Verfahren Edisons noch jede einzelne Walze original besungen werden mußte, genügte bei der Wachsplatte eine einmalige gute Aufnahme, um Matrizen anzufertigen, von denen dann eine beliebige Anzahl von Platten gepreßt werden konnte. Heute werden die Werke mehrmals auf Tonband aufgenommen und die besten Teile — ähnlich dem Schnittverfahren beim Film, jedoch komplizierter, da das Tonband nur magnetisch abtastbar ist — zusammengeklebt. Erst von diesem Tonband werden Matrize und Platten abgenommen.

Wie bei jeder anderen Kunstform gehen Entwicklung von Form und Inhalt, von Technik und Repertoire Hand in Hand. Man begann mit Aufnahmen der menschlichen Stimme, mit Sprache und Gesang. Denn darin lag ja das einmalig Fesselnde dieser neuen Erfindung: man konnte eine Stimme für kommende Generationen erhalten. So ist es nur verständlich, daß die erste Blütezeit der Schallplatte mit der Stimme Carusos untrennbar verbunden war. Die Künstler- platte bildet auch heute noch den Kernstock jedes Plattenrepertoires. Die berühmtesten Arien und Lieder scheinen in jtedem Katalog von den verschiedensten Stars gesungen auf, die bekanntesten Stücke der Instramentalliteratur von den berühmtesten Solisten gespielt, vereinzelt zunächst daneben größere Werke: Symphonien, Opem und Kammermusikwerke. Denn die Spieldauer einer Plattenseite beträgt nur 4 bis 8 Minuten. Eine entscheidende Wendung in der Repertoirebildung bringt erst die Erfindung der Langspielplatte, kurz LP genannt. Am 18. Juni 1948 führt Columbia Records Inc. im Waldorf Astoria Hotel in New York eine Platte einem geladenen Kreis von Reportern vor, deren Spieldauer 23 Minuten pro Seite beträgt: die Rillen sind enger aneinander geschnitten, die Geschwindigkeit des Plattentellers wurde von 78 auf 45 beziehungsweise 331/ Umdrehungen pro Minute herabgesetzt. Dies setzt zwar neue Wiedergabegeräte voraus, bringt aber den Vorteil, ganze Symphonie- und Quartettsätze, ja sogar ganze kleinere Symphonien ohne störenden Plattenwechsel abspielen zu lassen. Ein neuer Plattenkunststoff, das Vinylite, eliminiert das störende Nadelgeräusch fast Vollständig.

Das Ausmaß dieser neuen Erfindung kann man am besten dann ermessen, wenn man die Plattenkataloge der verschiedenen Jahre vor- und nachher vergleicht. Im Jahre 1950 gibt es allein in den USA mehr als hundert neue Schallplattenfirmen, die fast alle nur Langspielplatten hersteilen, und zwar nahezu ausschließlich ernste Musik mit einer Durchschnittsproduktion von 2 bis 8 Platten pro Monat.

In Europa erzeugt die .Deutsche Grammophon’ zunächst eine Platte .mit verlängerter Spieldauer von zirka 12 bis 15 Minuten pro Seite bei gleicher Umlaufgeschwindigkeit, die also auf den alten Plattenspielern gespielt werden kann, und ln letzter Zeit auch Langspielplatten mit 33V Umdrehungen pro Minute und einer Spieldauer bis zu 25 Minuten. Andere Firmen schlossen sich ebenfalls an und Philipps G. m. b. H. bringt seit etwa einem halben Jahr auch in Österreich Plattenspielapparate mit verstellbarer Geschwindigkeit für Normal- und Langspielplatten heraus. Man schätzt, daß in Österreich derzeit etw 500 Apparat in Verwendung sind.

Bei dem Stand dieser letzten Entwicklung ist nun aber auch die Möglichkeit und sogar Berechtigung zu einer Schallplattenbesprechung — zu einer Kritik — gegeben. Denn das Einmalige, .Ewige der Schallplatte wirkt sich in einer besonderen Sorgfalt in der Auswahl des Repertoires, der Künstler und der Technik aus. Sie ist nicht, wie das Konzert, an den Augenblick gebunden, sie hat Dauerwert und soll daher in jeder Hinsicht vollkommen sein. An ihr können uns folgende Generationen nachprüfen, und die Schallplattenproduktion sollte mehr denn je unter der Devise stehen: Drum prüfe, wer sich für ewig bindet. Diese Notwendigkeit einer dauernden Gültigkeit der Interpretation den aufnehmenden Künstlern und Firmen vor Augen zu halten, wäre allein schon Daseinsberechtigung jeder Plattenbesprechung und Kritik.

Eine Kritik muß sich jedoch auch 6chon auf die Repertoirebildung der einzelnen Firmen erstrecken. Es zeigt schon ein erstes Durchblättem der in österreichischen Plattengeschäften aufliegenden Kataloge, daß wir uns hier erst am Anfang befinden. Columbia, His Masters Voice, Parlophon, Telefunken, Deutsche Grammophon, Philips und Viennola — um nur die häufigsten zu nennen — sind hier in der Hauptsache mit dem Standardrepertoire der Orchesterliteratur und mit Serien von Künstlerplatten be- . rühmter Solisten vertreten. In den USA hingegen ist dieses Standardrepertoire den drei bis vier großen Firmen Vorbehalten, die sich die bekanntesten Solisten in Exklusivverträgen verpflichtet haben. Die Hauptzahl der anderen kleineren und kleinsten Firmen — unterstützt durch die großzügig angelegten Aktionen der großen Firmen zur Verbreitung der neuen Langspielapparate — verlegen sich, nicht zuletzt aus Konkurrenzgründen, auf die Herausgabe der unbekannteren Literatur, und es setzte geradezu ein Run aller Finnen ein, wer als Erster ein noch nicht aufgenommenes Werk herauszubringen imstande war, ein Konkurrenzkampf, in dem es auch an Werkspionage nicht fehlte. Doch gibt es heute dadurch nicht nur die unbekanntesten Werke der Klassiker und auch unbekannteren Komponisten auf Langspielplatten, sondern auch eine beachtenswerte Anzahl von Werken der modernsten Literatur. Einzelne Firmen haben sich sogar nach ihrem Spezialgebiet benannt, so zum Beispiel Haydn-Society, Bartok Recording Society, Bach-Guild, American Contemporary Music Society usw.

Dieser Unzahl von teilweise wirklich hervorragenden Plattenerscheinungen in Kürze gerecht zu werden, ist unmöglich. Die an dieser Stelle geplanten Plattenbesprechungen werden sich mit dem Repertoire der einzelnen Firmen befassen. Den Möglichkeiten des vorläufigen inländischen Marktes angepaßt, soll zunächst in der Hauptsache auf die hier noch am meisten verbreitete Normalspielplatte eingegangen werden. Darüber hinaus aber gilt es, den Anschluß an den neuesten Stand der Technik zu finden und auch die Langspielplatte in den Betrachtungskreis einzubeziehen. Schon tauchen vereinzelt ausländische Langspielplatten in den Schaufenstern der Schallplattengeschäfte auf, und ähnlich wie in den westeuropäischen Staaten werden in nicht zu ferner Zeit auch überwiegend Langspielplatten in unseren Plattenschaubibliotheken vorherrschen.

Kommt auch die Zeit, wo eine österreichische Langspielplatte von internationaler technischer Qualität in den Plattensammlungen der ganzen Welt zu finden sein wird? Es sollte von der Musikmetropole Wien und Österreich erwartet werden!

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