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Eine neue Weltsprache der Musik?

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Rom, im April 1954.

Als sich zum erstenmal im großen Konzertsaal der Accademia Nazionale di Santa Cecilia, dem ältesten Musikinstitut Italiens, dessen erster Vorstand Palestrina gewesen ist, die Teilnehmer des Kongresses „Die Musik im 20. Jahrhundert" versammelten, um die Jury zu wählen bzw. zu approbieren, die aus den zwölf anonym eingereichten Kompositionen die zu prämiierenden auszuwählen hatte, schien eine Sprachverwirrung unvermeidlich, eine gegenseitige Verständigung auf alle Fälle schwierig. Fünfundzwanzig Nationen waren nämlich vertreten, deren Delegierte sich zunächst reihenweise nach den Kopfhörern mit den Aufschriften Italienisch, Französisch, Englisch, Deutsch — dies die offiziellen Kongreßsprachen — gruppierten. In vier schalldichtn Kabinen saßen vor ihren Mikrophonen die Uebersetzer, die keine leichte Aufgabe hatten und dieser auch nicht immer ganz gewachsen waren. Daher wurden nur jeweils die Hauptreferate in der Originalsprache verlesen, während man sich in den anschließenden Diskussionen, so gut es eben ging, des Englischen und Französischen bediente, wobei — nach guter alter Kongreßgepflogenheit — das Französische bald inoffizielle Verhandlungssprache wurde.

Aehnliches ereignete sich wider Erwarten auch bei den musikalischen Darbietungen. Fünfzehn Konzerte mit rund sechzig Werken von Komponisten aus aller Herren Ländern ... Würde das im Gesamteindruck mehr ergeben als ein verwirrendes Tonmosaik, ein Quodlibet aller möglichen Stile und Richtungen? Aber bald waren auch hier gewisse Leitlinien erkennbar. Mit je einem Werk wurde den „Vätern" und anerkannten Meistern der Neuen Musik gehuldigt: man spielte selten aufgeführte Werke von Busoni und Roussel, Satie „Socrate" und Bartök, Schönberg, Hauer, Berg und Webern, Honegger, Milhaud, Malipiero und Hindemith. Unter den „Alten" fehlten auch jene nicht, deren Werke unverkennbar nationales Gepräge tragen oder durch die Folklore ihres Landes bestimmt sind De Falla, Janäcek und Prokofjew, während in selbstverfaßten Kommentaren von den jüngeren Komponisten das Fehlen, ja die geflissentliche Vermeidung folkloristischen Materials betont wurde.

Von den zwölf für den Wettbewerb eingereichten Kompositionen waren insgesamt acht in strenger oder freier Zwölftontechnik geschrieben, und unter den übrigen Werken, die die Programme ergänzten, befanden sich einige weitere, deren Autoren gleichfalls mit „Reihen” arbeiten. So zum Beispiel wurden von Francesco Malipiero sieben Variationen über eine Zwölftonreihe auf die in französischer Sprache geschriebenen Rosengedichte R. M. Rilkes für eine Singstimme und Klavier aufgeführt, und aus dem Programmheft erfuhr man, daß der Altmeister der italienischen Komponisten bereits seit 1945 unter die Dodekaphonisten gegangen ist. Das im 5. Kammerkonzert erstaufgeführte Septett für Klarinette, Horn, Fagott, Klavier und Streichtrio von Igor Strawinski aus dem Jahre 1953 ist ebenfalls auf einer „Reihe" — allerdings einer acht- t ö n i g e n —. ihrer Llmkehrung und ihrem Krebs mit den für Strawinskij charakteristischen Dur- Moll-Mischungen aüfgebaut. Zwar klingt dieses Werk des Proteus der neuen Musik zwar immer noch wie ein „echter Strawinskij“, aber man erzählte sich während des Kongresses, daß Strawinskij in seiner letzten, noch in Arbeit befindlichen Komposition bereits mit der Zwölftonreihe experimentiere. So ergab sich als Gesamteindruck bei der Mehrzahl der erst- und uraufgeführten Werke, daß nicht nur das jeweilige nationale Idiom, sondern oft auch die persönliche Eigenart zugunsten dieser neuen, allgemein verbindlichen Technik auf ein Minimum reduziert ist, und so entsteht etwas wie eine neue musikalische Weltsprache, eine Art Esperanto der Musik. Man mag aus verschiedenen Gründen diese Entwicklung bedauern, aber sie scheint dem Zuge der Zeit zu folgen, und es obliegt dem Chronisten, den Tatbestand sine ira et Studio zu registrieren.

Die mittlere Generation der bereits bekannteren, zum Teil schon arrivierten Komponisten war mit Pizetti, Petrassi und Dallapiccola, Poulenc, Delvin- court und Auric, mit Britten, Copland und Barber, Blacher und Hartmann vertreten. — Da an dieser Stelle wiederholt gefordert wurde, daß bei der Beurteilung von Kunstwerken niemals nur der nationale oder gar provinzielle Maßstab angewendet werden dürfe, gestatten wir uns mit aller gebotenen Sachlichkeit festzustellen, daß Oesterreich bei diesem Festival der zeitgenössischen Musik durch ein einziges Werk die Danton-Suite Gottfried von Einems nicht entsprechend repräsentiert war.

Konzerte eine oder zwei von den Kompositionen, die für den W ettbewerb eingereicht worden waren, gespielt, was die Arbeit der Juroren wesentlich erleichterte und auch die übrigen Kongreßmitglieder — je nach dem stärkeren oder geringeren Applaus, den die einzelnen Werke erhielten — an der Entscheidung mitbeteiligte. Drei Gattungen waren für den Wettbewerb ausgeschrieben: Violinkonzert, kurzes einsätziges Orchesterstück Ouvertüre und Kompositionen für eine Singstimme mit Begleitung von Kammerorchester. Den ersten Preis erhielt Mario P e- r a g a 11 o Jahrgang 1910, Italien, der zweite wurde zwischen dem Deutschrussen Wladimir Vogel geb. 1896 und Giselher Klebe geb. 1925, Deutschland, der dritte zwischen Jean-Louis Martine! geb. 1914, Frankreich und Lou Harrison geb. 1917, USA geteilt. — Sie empfingen die Preise auf dem Kapitol aus der Hand des Bürgermeisters von Rom in Anwesenheit Igor Strawinskijs, eines R e- gierungsvertreters und sämtlicher Kongreßteilnehmer.

Als Kongreßoper wurde das lyrische Drama in zwei Akten und zehn Bildern „Boulevard Solitude" von dem achtundzwanzigjährigen Deutschen Hans Werner Henze im R ö mi-sehen Opernhaus aufgeführt. Das 1951 in Paris geschriebene Werk auf einen Text von Grete Weil nach der „Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut" des Abbe Prevost verbindet auf artistisch-raffinierte Weise das Ballett mit der Handlung, fügt an den lyrischen Höhepunkten Fernchöre ein und ist von ergreifender schwermütiger Schönheit. Mit den abstrakten und phantastischen Bühnenbildern und Kostümen Jean Pierre Ponnelles und der marionettenhaften Choreographie Teresa Battaggis übt die Musik Henzes einen eigenen Zauber, vor allem durch die konsequent durchgehaltene irreale Atmosphäre, die differenzierte, zuweilen an Alban Berg erinnernde expressive Tonsprache und die einheitliche melancholische Grundstimmung. Das römische Premierenpublikum im Glanz der schwarzen Fräcke und der feuern Seidenroben erwies sich als diesem Zauber völlig unzugänglich und reagierte mit Pfeifen, Zischen und Zwischenrufen, die zuweilen eine solche Lautstärke erreichten, daß einige der gedämpften Zwischenspiele im Lärm untergingen. Es war ein Theaterskandal ersten Ranges, dem beizuwohnen dem Ehrenpräsidenten des Kongresses, Igor Strawinskij, auf eine recht merkwürdige Art erspart blieb, da man ihm — weil er nur im dunklen Anzug, aber nicht in der vorschriftsmäßigen Abendkleidung erschienen war — den Eintritt in seine Loge verwehrte. Et hoc memi- nisse iuvabit...

Demonstrativ wurde der Meister dann beim Abschlußkonzert gefeiert, das er im Großen Spnde- saal der Radiotelevisione Italiana auf dem Foro Italico, wo die meisten Orchesterkonzerte stattfanden, leitete. — Der einundsiebzigjährige .Strawinskij, wohl der größte lebende Komponist, mit sparsamen und energischen Bewegungen seine eigenen Werke interpretierend — vom „Feuervogel" von 1910 bis zum „Orpheus"-Ballett yon 1947 —, das war wohl, neben dem Erlebnis der Ewigen Stadt, die zwei Wochen lang im Glanz der Frühlingssonne strahlte, der stärkste und bleibendste Eindruck, den man von diesem Kongreß mit nach Hause nahm.

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