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Elitekultur ohne Personenkult

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„EUROPÄISCHE KULTUR IM ZEITALTER DES BAROCKS.” Von Pierre Cha un u. Knaurs Große Kulturgeschichte, Band III. Übersetzt von Alfred P. Zeller. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nacht. München- Zürich, 1968. 838 Seiten, 364 Abbildungen, 8 Farbtafeln, 37 Karten und Pläne. DM 49.80.

Mit den zehn- und mehrbändigen Geschichte- und Kulturgeschichtewerken, mit den primär auf Anekdotensammlungen und Beschreibungen ausgerichteten „Riesenwälzern” des 19. Jahrhunderts ist es wohl vorbei. Sie sind unaktuell geworden, entsprechen in ihrer Tendenz kaum noch unserem Geschichtsdenken. Als Reaktion darauf glaubten seriöse Wissenschaftler sich in die Detailforschung retten zu müssen, negierten konstant alle größeren Versuche einer neuen Zusammenschau in umfassender Sicht und nach vielfältigen Perspektiven: Unzählige Spezialforschungen auf allen Gebieten der Geschichte und Kulturgeschichte waren die Folge, Einzeluntersuchungen, die, zusammengefaßt, erneut eine Monsterenzyklopädie ergeben hätten, bei der nur freilich in jedem Band Probleme unter einem anderen Aspekt gesehen und behandelt worden wären.

Nun hat sich der Verlag Droemer- Knaur entschlossen, ein neues Standardwerk „Knaurs Große Kulturgeschichte” herauszugeben, von dem bisher drei umfangreiche Bände vorliegen: eine griechische und römische Kulturgeschichte sowie der über 800 Seiten starke Band „Europäische Kultur im Zeitalter des Barock”, ein Werk Pierre Chaunus, das eigentlich schon 1966 unter dem Titel „La Civilisation de l’Europe Classique” in französischer Sprache bei Arthaud in Paris erschienen ist. Weitere neun Bände sind bereite angekündigt, die alle Kulturbereiche vom alten Ägypten bis ins Zeitalter der Revolutionen durchmessen.

Was ist das Charakteristikum dieser neuen Reihe des neuen Bandes? Über jeden kulturhistorischen Bereich, über jedes Problem, das hier aufgegriffen und erläutert wird, ist bereits unendlich viel geschrieben worden. Bald waren es rein theoretische Bücher, in denen historische Hypothesen zusammengetragen und synthetisiert wurden, bald waren es pragmatische BesehrCifoungeh, bald eufzäMumgen nüchterner • Fakten nd bessere oder schlechtere Geschehensillustrationen und Porträts. Die Sekundärliteratur zum Thema Barock etwa ist allmählich unüberschaubar geworden, obwohl dennoch über viele entscheidende Bereiche dieser Epoche nur minderwertige Untersuchungen vorliegen. Sie alle zu kennen ist fast unmöglich, und zwar schon für den Experten. Wie erst für den „bloß” Interessierten, der sich ausführlich informieren, nicht nur Details, Stückwerk, sondern großzügige Situationsskizzen vorgesetzt bekommen will.

Das bedeutet natürlich ein neues Verlangen nach Konzentration, ein Abrücken von der Personalgeschichtsschreibung, ein Abrücken von der manchmal noch immer geübten Praxis, einzelnen Herrschern und Staatsmännern alles in die Schuhe zu schieben, was, durch Um- und Geisteswelt bedingt, sich in einer bestimmten Richtung konsequent entwickeln mußte. Das heißt auch, daß Europas Kultur wohl als Elitekultur ohne Personenkult, hingegen nicht mehr ausschließlich als eine von ganz wenigen diktierte, „gemachte” Kultur dargestellt werden kann. Vielfältige Faktoren, Details aus allen Ländern und Städten, aus allen Gebieten müssen nun berücksichtigt werden: Verkehr und Handel, Hochofen und Dampfmaschine, Druckerei und Verlagswesen, Konjunktur und Kaufkraftschwächungetn, Geldumlauf, Mode, hygienische Zustände sind nun ebensowenig aus einer sachlichen kulturhistorischen Analyse zu verbannen wie Waldnutzung, Agrikulturtraktate, Bevölkerungswachstum, Einflüsse aus Ostasien, Pest und Tuberkulose, Staatsideen, Kriegskunst, religiöse Entwicklungen. Kurz: die tragische Spannung, die sich aus dem Gegensatz zwischen neuem Denken und einer in traditionellen Formen erstarrten Gesellschaft ergab, die Wechselwirkung zwischen technischen Hilfsmitteln und dem voranschreitenden Denken und Forschen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen, die damals zwar nicht völlig erstarrt, aber doch grundsätzlich etabliert, jeder Wandlung abgeneigt waren, werden für die Kulturgeschichteschreibung entscheidender als manche rein künstlerischen Äußerungen, denen früher eine zentrale Rolle zugewiesen wurde.

Es ist ein Verdienst dieses Buches, über vieles bisher Gebotene hinauszugehen, eine klar überschaubare Zusammenfassung zu biefen, in der entscheidende demographische Fakten berücksichtigt wenden. Eine Dreiteilung nach den Gebieten „politische Geschichte”, „materielle Kultur” und „Abenteuer des Geistes” erweist sich als vernünftige Gliederung, die es dem Autor möglich macht, seinem Leser viele Details zu ersparen und statistisch-analytisch unter Verzicht auf allzu viele Einzelfakten das aufzuzeigen, was stellvertretend für vieles stehen kann, worum es geht.

Als Ganzes gesehen ist es wahrscheinlich das typische Buch eines Mannes, der in seiner Lehrtätigkeit verwurzelt ist und weiß, daß mit einer weisen Beschränkung auf Charakteristisches und typische Formen mehr geboten wird als mit einem unsehbaren Wust von Hypothesen, Fakten, Namen und Zahlen. Es ist somit mehr eine Kulturgeschichte der jungen barocken Welt mit ihrer breitbasigen Bevölkerungspyramide, die sich allmählich zur beherrschenden Weltmacht entwickelte, denn eine Kulturgeschichte einzelner. Obwohl man es im Barock natürlich fast überall in erster Linie mit einem- Europa einer von materiellen Sorgen und politischen Lasten befreiten Elite zu tun hat, die „abgesichert durch herrschaftliche Renten und geschützt durch die absolute Monarchie, frei dafür war, die kommenden Umwälzungen vorzubereiten. Hinter der majestätisch ruhigen Fassade dieses Europa brodelte die einzige Revolution, die wirklich zählt — die Revolution des Geistes”.

Daß Pierre Chaunu seinem Vaterland Frankreich und dem — wie der französische Originaltitel besagt — „klassischen” Europa immer wieder mehr Aufmerksamkeit und Liebe schenkt als anderen Staaten oder manieristischen Ausdrucksformen etwa, manchmal übrigens auch viel tieferes Verstehen der kulturhistorischen Phänomene, ist nicht zu ändern, macht das Werk indes nicht weniger wertvoll und informativ. Schade ist allerdings, daß wahrscheinlich mentalitätsbedingt die Persönlichkeit Rudolph II. im Lexikon im Anhang derart falsch bewertet wird, daß Chaunu den kulturellen Bemühungen der Wittelsbacher nicht mehr Raum schenkt, daß Karl VI. wie auch Wien oder die barocke Oper und ihre Entwicklung etwas unterschätzt werden. Übrigens: Leibniz kann doch wohl seinen Freiherrntitel keinesfalls von Kaiser Karl IV. (in Worten: dem Vierten) erhalten haben.

Davon abgesehen: ein auch stilistisch hervorragend geschriebenes, sauber übersetztes Werk, interessant und wert, genau gelesen und immer wieder hervongeholt zu werden. Umfangreiche lexikographiische und synoptische Zeittafelergänzungen gestatten rasches Nachschlagen.

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