Er wollte sich nicht finden

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Zur Max-Ernst-Retrospektive im Münchner Haus der Kunst.

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Zur Max-Ernst-Retrospektive im Münchner Haus der Kunst.

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Loplop, der Vogelobere" (1928) löst durchaus widersprüchliche Gefühle aus. Markant hebt sich über einem dünnen Hals der eiförmige Kopf mit dem scharfen Hakenschnabel vom tiefschwarzen Grund ab, possierlich wirken die wenigen Flaumfedern am Hinterkopf: Küken und spähender Wächter zugleich, mit chiffrenhaft angedeutetem Gefieder in spannungsvollem Schwebezustand zwischen fast monumentaler Ruhe und flatterndem Erregtsein.

Die gebieterische Pose wirkt ironisch in der Einsamkeit des undefinierbaren Dunkel. In diesem rätselhaften Bild des Loplop, einem seiner vielen Alter Ego in seinem Îuvre, hat Max Ernst mit sparsamsten Mitteln Ernsthaftigkeit und Witz zur Ikone einer Bildvision verdichtet. Der Künstler entzieht sich geschickt dem Zugriff des Betrachters, schafft Distanz und Suggestion zugleich wie in jenem berühmten Autoporträt (-1938), in dem das Gesicht des "Sehers" Max Ernst durch das Gespinst eines flüchtigen Lineaments wie entrückt erscheint.

"Ein Maler mag wissen, was er nicht will. Doch wehe! wenn er wissen will, was er will! Ein Maler ist verloren, wenn er sich findet." Getreu dieser seiner Maxime hat Max Ernst als Inventeur eines eigenen Kosmos "sich in Fragen und Rätsel hineingemalt" (W. Spies), immer neue Wege beschritten und - hierin Picasso vergleichbar - bereits Formuliertes variierend aufgegriffen. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist sein umfangreiches Îuvre in immer anderen Facetten bekannt geworden, und die Forschung hat mit den inzwischen vorliegenden Werkverzeichnissen und Einzeluntersuchungen neue Erkenntnisse gewonnen.

Nach der großen Retrospektive 1979 konzentriert sich Werner Spies (Paris) auf nur rund 180 Werke zumeist aus Privatbesitz aus der Zeit zwischen 1916 und 1972 in einer schlanken, dichten Ausstellung in Berlin und München. Am Ende des 20. Jahrhunderts lenkt er die Aufmerksamkeit nochmals ausdrücklich auf jenen Künstler, der die Entwicklung der Kunst mitgeprägt, zum Teil vorweggenommen hat. Als einer der ersten nicht akademisch ausgebildeten Maler der Moderne hat Max Ernst "Jenseits der Malerei" - so seine Schrift (1938) - Techniken erfunden und weiterentwickelt, die das Zufällige mit kompositorischem Kalkül und malerischer beziehungsweise zeichnerischer Vollendung verbindet.

Naturwissenschaftliche Motivvorlagen aus Anschauungsmaterial des 19. Jahrhunderts bilden die raffinierte Instrumentierung seiner Collagen, deren Bildquellen zwar nachgewiesen werden konnten, deren Deutung jedoch offen bleibt. Die Frottagen der "Histoire Naturelle" seit 1925 leben von vorgefundenen Strukturen von Holz, Blättern u. a. Mit unter die bemalte Leinwand gelegten Fundstücken erzeugt der Künstler beim Abspachteln der Farbschichten die spezifische Spurenvielfalt seiner Grattagen. In Farbe getränkte Schnüre auf die Leinwand geworfen, evozieren mit zufällig entstandenen Formen innere Bilder. Im Abklatschverfahren (Decalcomanie) erreicht Max Ernst eine durch Sogwirkung veränderte Oberflächenstruktur des Farbauftrages. Das Schwingen einer löchrigen Farbdose an einer Schnur (Oszillation) ermöglicht ein Malen über die gesamte Körperbewegung, eine Technik, die er für seine Planetenbilder einsetzt und die Vorbild wird für das "action painting" Jackson Pollocks.

Max Ernst hat diese halbautomatischen Techniken für seine surrealistischen Bildwelten geradezu ausgebeutet, scheinbar Unvereinbares miteinander verschmolzen. Der langjährige Student der Philosophie, Psychologie und der Kunstgeschichte hat aber auch mit verfremdeten Zitaten sich auf Altmeister der Kunstgeschichte (Dürer, Raffael, Leonardo) bezogen. Seine Bild-Themen kreisen um Erscheinungen der Natur, Vögel, Vogel-Menschen, wilde Horden mächtiger Ungeheuer und Chimären, utopische Landschaften und unheimliche Wälder, Lebensvisionen unter Wasser und über dem Erdhorizont, planetarische Konstellationen.

Die traditionelle Lesbarkeit ist aufgehoben, Perspektiven sind verschoben. Tiefliegende Standpunkte zwingen den Blick des Betrachters ins Bild, mitten hinein in eine utopisch erscheinende Welt. Die gleichzeitige Nähe und Ferne stiftet Verwirrung - es ist, als blicke man abwechselnd durch beide Seiten eines Fernglases: Detailgenauigkeit auf Bodenniveau, weit entfernte Horizonte in unbestimmbarer Distanz. Vergleichbar Goethes "Lynceus der Türmer" (Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt) umspannt Max Ernst visionär die allumfassende Weite zwischen "Moosgestelle" und Gestirnen. Der Hölle der Zerstörung, die Lynceus "weitsichtig" beobachtet, entspricht bei Max Ernst die Verweigerung überkommener Ordnungen und künstlerischer Konventionen, die einem Flächenbrand zum Opfer fallen müssen, um Neues entstehen zu lassen. Schon 1912 spricht er von der Notwendigkeit der "Erlebnisse" und beschließt in seinen Biographischen Notizen "Wahrheitsgewebe und Lügengewebe" die Maxime: "Daß es ihm geglückt ist, sich nicht zu finden, betrachtet Max Ernst als sein einziges Verdienst."

Bis 12. September1999 Täglich 10 bis 22 Uhr.

Haus der Kunst, München, Prinzregentenstr. 1 (0049-89-21127)

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