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Es geschah vor zwei Jahren

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Die Abwehr gegen die Verheerungen durch Wildbäche und Lawinen im Hochgebirge ist so alt wie die Besiedlung dieser Gebiete selbst. Es bedurfte kaum der außergewöhnlichen Lawinenkatastrophen des Winters 1950/51, deren Jahrestag sich kürzlich zum zweitenmal jährte, um die Gefahren, denen Wirtschaftsgebiete und öffentliche- Einrichtungen durch solche Elemcntarereignisse ausgesetzt sind, zu verdeutlichen.

Wildbachausbrüche und Lawinenabgänge sind in vieler Hinsicht miteinander vergleichbar; sie gehören zu jenem Teil des großen Wasserkreislaufes, der sich auf der Erde, bisweilen in sehr ungestümen Formen, abspielt. Das vom Gebiege abfließende Wasser erodiert die Bachbette und vertieft sie, unterwühlt die Ufer der Gerinne und bringt damit erhebliche Mengen von Geschiebe in Bewegung, das dann in den Talnicdcrungen meist in sehr störender Weise zur Ablagerung kommt. Audi Lawinen können das Landschaftsrelief weitgehend verletzen, sie bahnen sich oft breite Gassen in geschlossene Wälder, reißen Bodenrunsen auf und folgen vielfach auch dem Grabenlauf der Bäche. So vollzieht sich eine stete Geländeumformung durch Wildbäche und Lawinen, die letzten Endes einem natürr liehen Gleichgewichtszustand zustrebt. Die Sicherung der in den Alpen oft in unmittelbarem Gefahrenbereich gelegenen Siedlungen und Verkehrswege gebietet jedoch dringend, einen Ausgleich schon früher mit künstlichen Mitteln herbeizuführen. Diesem Zwecke dienen in Wildbächen technische Verbauungen, zu denen Geschieberückhaltesperren, Querwerke zur Festigung “der Bachsohle, Uferschutzbauten, in Lawinengebieten Lawinen-schutzmauern, Brecher usw. gehören. Um jedoch das Uebel an der Wurzel fassen zu können, muß das ganze Sammelgebiet eines Baches, ebenso wie das Ursprungs- oder Abbruchgebiet einer Lawine auf alle Umstände hin untersucht werden, die den Hochwasserabfluß und die Schneebewegung fördern. Die Wildbach- und Lawinenverbauung umfaßt damit die Regelung des Wasserhaushaltes auf großen Flächen und wird dadurch im weiteren Sinne zu einem regionalen Problem. Zu den technischen Verbauungen in den Gräben und Lawinengängen treten als notwendige Ergänzungen forstlich-biologische Vorkehrungen zur Schaffung oder Erhaltung einer geeigneten Vegetationsdecke in den Gebirgseinhängen. Damit berühren wir das Kernproblem des Hochwasser-und Lawinenschutzes überhaupt.

In den vergangenen Dezennien hat sich als Folge des zunehmenden Bevölkerungsdruckes immer mehr die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die Sicherung des Lebensraumes und der Ernährungsbasis eng mit einer wirksamen Bekämpfung jeglicher Erosionserscheinungen, die fruchtbaren Kulturboden rauben, verbunden ist. In den alpinen Gebieten unserer Heimat nimmt die Wildbach- und Lawinen-verbauung im Rahmen der Erosionsbekämpfung einen hervorragenden Platz ein, da sie neben dem Schutz wertvoller Volksgüter besonders auf einen befriedigenden Zustand des Gebirgsgeländes hinsichtlich Vegetation und Wasserhaushalt hinarbeitet.

Unter den mannigfachen Vegetationsformen ist nun in erster Linie der Wald geeignet, die geschilderten Gefahren zu bannen. Obwohl die etwa 100 Jahre alten Versuche auf diesem Gebiete noch nicht abgeschlossen sind, liegt heute schon ein reiches Ziffern-materiai über die Zusammenhänge zwischen Bewuchsarten und Niederschlagsabfluß vor. So zeigt sich beispielweise, daß Fichtenb stände wegen ihrer Transpiration, absolut genommen, viel Wasser verbrauchen, während der spezifische Verbrauch an Wasser pro Kubikmeter Holzmassenertrag wegen des großen Zuwachses der Fichte gering ist. Wasserwirtschaftlich betrachtet, sind daher Fichtenwälder in wasserarmen Gebieten nicht erwünscht, im Zusammenhalt mit der Dek-kung des Holzbedarfes tragbar, während in Gegenden mit ausreichendem Niederschlag — wie bei uns — die Fichte zur Vermeidung von Hochwasser- und Vermurungskatastro-phen wieder als geeignete Holzart erscheint. In ausgesprochenen Trockengebieten, wie etwa in den Zonen Westamerikas, kann eine völlige Umgestaltung der Bodenbewirtschaftung ein Ersatz des Waldes durch andere weniger wasserverbrauchende Vegetationsformen (Graslandschaft) notwendig werden. Diese Hinweise zeigen, wie schwierig es ist, je nach den gegebenen Verhältnissen das Zusammenspiel aller in Betracht kommenden Faktoren (Klima, Vegetation, Niederschlag usw.) zu entwirren und zu klären.

In Oesterreich, dem wasserreichsten Lande Mitteleuropas, dem Lande der Wildbäche, fällt der Forstwirtschaft vorwiegend die Aufgabe zu, durch den Wald den Nieder-schlagsabfluß so zu regeln, daß Extremabflüsse in Form von Hochwässern vermieden werden. Bei den forstlichen Arbeiten der Wildbach- und Lawinenverbauung tritt im besonderen die Zielsetzung der Bodenbindung gegenüber allen anderen Forderungen hervor. Es kommen daher in den betroffenen Geländeteilen alle jene Holzarten in Betracht, deren Wurzelsystem eine rasche, oberflächliche Festigung von Rutsch- und Bruchflächen ermöglicht. Daher werden dort vorerst regenerationsfähige Schutzholzarten, wie Weiden, Erlen, Pappeln, Robinien, und erst später edlere Sorten, wie Esche, Ulme, Ahorn, Fichte, Tanne, Lärche, herangezogen.

Die biologische Behandlung der Gebirgs-flächen bildet zusammen mit den früher erwähnten technischen Maßnahmen in den Bachläufen das „f o r s 11 e c h n i s c h e System der Wildbach- und Lawinenverbauung“, eine spezifisch österreichische Einrichtung, die sich gerade in den letzten Katastrophenjahren wieder bewährt hat. Mit besonderem Nachdruck verfolgt man heute neben der Waldpflege die Neubegründung von Waldbeständen dort, wo in früheren Jahren aus spekulativen Gründen der damals hoch hinauf reichende Waldgürtel durch Kahlschläge geschmälert wurde. Wie weit solche Waldverwüstungen gingen, zeigt sich beispielsweise in Tirol, wo seit dem Jahre 1770 eine Gesamtfläche von rund 450 Quadratkilometern entwaldet wurde. Es vollzieht sich dort, wo an Stelle früher Wälder heute nur mehr magere Weideböden vorhanden sind, ein Wiederaufbau in einem der Oeffentlichkeit weniger zugänglichen Sektor, der jedoch eine eminente Bedeutung für die gesamte Volkswirtschaft als Vorbeugung gegen Hochwassergefahren bedeutet. Nicht nur Einzelinteressen, sondern vor allem öffentliche Belange werden dadurch gesichert. Man denke nur an die Hochwasserkatastrophe vom 4. Juli 1947 bei Werfen, wo durch den Ausbruch eines einzigen bis dahin nicht gefährlich erscheinenden Wildbaches, des Reichhofgrabens, die Bundesbahnlinie Salzburg—Innsbruck als alleinige Bahnverbindung nach dem Westen wochenlang unterbrochen und damit der Lebensnerv ' unserer Wirtschaft getroffen wurde.

Mit Genugtuung kann man gerade in Oesterreich auf eine erfolgreiche Tradition in der Erosionsbekämpfung zurückblicken. Schon vor etwa 70 Jahren wurde durch ein kaiserliches Reichsgesetz die einheitliche, zentrale Lenkung der Wildbach- und Lawinen-verbauung geschaffen, eine Institution, die sich bis in unsere Tage erhalten und große Erfolge gezeitigt hat. Wesentlich war, daß dabei stets ganze Wildbachgebiete plangemäß erfaßt wurden, da — wie aus dem Vorhergesagten hervorgeht — örtliche Einzelmaßnahmen keinen ausreichenden und nachhaltigen Erfolg verbürgen und die Gesundung nur auf der ganzen Fläche des Bachgebietes im Zusammenhange mit der Behandlung der Vegetation gesucht werden kann.

Außer mit den bereits erwähnten Interessengebieten steht die Wildbachverbauung in engem Zusammenhange mit dem seit Kriegsende besonders forcierten Ausbau der Wasserkräfte, der einschneidende Eingriffe in die natürliche Entwicklung der Gebirgsbäche, sei es durch Ableitung von Gewässern in fremde Einzugsgebiete oder durch Abzapfung der Bachwässer im eigenen Sammelgebiete, mi sich brachte. Hier werden vielfach Verbauungen von Wildbächen, auch zum Schutze der Kraftwerksanlagen selbst, notwendig. Da die Wasserkraftwirtschaft in den Alpen durch technische Kunstbauten, wie Speicheranlagen

(Kaprun, Limbergsperre), einen Ausgleich der Abflüsse zur Deckung der Strombedarfsspitzen im Winter anstrebt, ist auch für sie die Erhaltung und Wiedergewinnung von Waldland, das diesen Ausgleich auf natürlichem Wege fördert, wichtig.

Aehnlich wie bei Wildbächen ist die Verhinderung von Lawinenstürzen auf weite Sicht vor allem nur durch Erhaltung des Waldbestandes in den Ursprungsgebieten möglich. Rein technische Abwehrbauten werden dort ausreichen, wovdas Abbruchgebiet oberhalb der natürlichen Waldgrenze liegt. Da mehr noch als bei Hochwässern die Ursachen von Lawinenkatastrophen auf kosmische Erscheinungen zurückgehen, ist ihr Eintritt völlig unberechenbar und auch keine periodische Wiederkehr solcher Ereignisse feststellbar. So gingen in der Schweiz nach Jahren verhältnismäßiger Ruhe im Winter 1950/51 nicht weniger als 1200 Lawinen ab, eine fast unglaublich anmutende Menge. Bei der Verbauung von Lawinen müssen daher sparsamste und wirtschaftlichste Methoden Platz greifen. Die in der Schweiz und neuerdings nach dem Kriege auch in Oesterreich intensiv betriebene „Law'inenforschung“ wies in der Verbauungstechnik neue Wege; es handelt sich — allgemein gesprochen — um sogenannte Verwehungsverbauungen, durch welche die Schneeablagerung in den obersten Regionen derart gelenkt werden soll, daß das Entstehen größerer Lawinen verhindert und deren Aufsplitterung in schadlose Teillawinen erzielt werden kann.

Die Bedeutung der Lawinenverbauung für die Gesamtheit zeigen die Lawinenstürze 1950/51, die in Oesterreich 103 und in der Schweiz 93 Todesopfer forderten und daneben unermeßliche Schäden an Gütern aller Art anrichteten. Allerorts erwies sich die Notwendigkeit der Erhaltung eines gesunden und kräftigen Waldbestandes in den Lawinengebieten; dort erst, wo ein solcher nicht, oder — wie im Falle •von Heiligenblut in Kärnten — nur unzureichend vorhanden war, konnten sich die Lawinenabgänge zu jenen elementaren Verheerungen ausweiten, deren Wirkungen noch in frischer Erinnerung sind.

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