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ESPRIT, CHARME UND HERZ

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IMMER NOCH, das heißt trotz einer umfassenden Coproduktionstätigkeit, zumal mit dem auch künstlerisch konkurrierenden Italien, ist Frankreich das Filmland. Hier entstand — vor über sechzig Jahren — die Kinematographie, hier vor allem wurden ihre Hervorbringungen immer wieder zur Kunst erhoben. Im Werk der Clair, Renoir, Duvivier, Carnė und wie sie alle heißen mögen, angefangen von „Unter den Dächern von Paris“ über „Nachtasyl“, „Kinder des Olymp“ zu „Orphee“, dem „Tagebuch eines Landpfarrers“, den „Verbotenen Spielen“ usw. — da vollzog sich wie sonst nirgendwo auf stets neue Weise die Steigerung des filmischen Vermögens zur Vollkommenheit.

Gewiß, nicht alles, was in den französischen Ateliers produziert wird — unter Berücksichtigung der Gemeinschaftsfilme jährlich rund einhundertunddreißig Titel — kann meisterlich genannt werden. Es gibt darunter, wie überall, Mittelmäßiges und auch Minderwertiges, Kommerzware, von cfcr eine besondere Ergiebigkeit erwartet wird (Andrė Paulvė zum Beispiel, der couragierte Produzent von Cocteaus „Orphee“, hat auch eine nach der Kasse schielende „Carmen“ hergestellt). Aber das allgemeine Niveau der Filme ist dem aller anderen Länder überlegen. Es war das schon immer der Fall, bereits vor dem ersten Weltkrieg, dann in den zwanziger und dreißiger Jahren und schließlich in der Zeit nach 1945, die ein bemerkenswertes Potential neuer Kräfte hervorgebracht hat, mochte ihr auch, im Gegensatz etwa zum italienischen Filmschaffen, eine völlige Erneuerung des Lichtspiels versagt geblieben sein.

FRANKREICH IST IN MEHRFACHER HINSICHT das Mutterland des Films — zunächst rein historisch: Am 28. Dezember 1895 erblickte er dort durch das Verdienst der Brüder Lumiėre das Licht der Leinwand, „zitternd" noch und etwas „wackelig", tapsig und recht unbeholfen. Wiederholt rutschte er auf dem glatten Zelluloid aus; doch er „machte sich“ bald: bereits im Alter von einem Jahr konnte er zaubern (der große Mėliės hatte ihm die Tricks beigebracht), schon mit zwei Jahren kleine Geschichten erzählen, bildlich nur, versteht sich (zum Beispiel über den Doktor Faust oder den heiligen Antonius von Padua). Als Zehnjährigen nahm sich seiner keine geringere Lehrmeisterin als die Comedie Francaise an (er produzierte jetzt in der neuen Eigenschaft des „film d’art", des Kunstfilms, Dramen, etwa Moliėres „Geizigen" oder Shakespeares „Macbeth“). Mit Fünfzehn beherrschte er alles, das gesamte, heute noch geläufige Vokabular der „Filmsprache“, deren Grammatik, deren Syntax, technisch gesprochen also die wechselnden Einstellungen, die Fahrtaufnahmen, die Montage usw. Mit seinen überragenden Fähigkeiten und Fertigkeiten wurde er sozusagen ein Wunderkind, selbst zum Erzieher für viele im In- und Ausland, in der ganzen Welt, wo er sich eine unbestrittene Geltung verschafft hatte.

Unter Louis Dellucs geistvoller Führung begann 1917 die sogenannte impressionistische Epoche der französischen Kinematographie. Abel Gance, der erste „Ueberfilmer“ (er schuf einen monumentalen „Napoleon“ schon auf Breitwand!), der erste „Filmdichter“ Marcel l’Herbier, der „Mystiker" Jean Epstein aus Polen u. a. prägten sie stilbildend. Ihnen folgten, etwa seit 1924, die Avantgardisten — der charmant-ironische Renė Clair zum Beispiel, dessen Glanzzeit zwischen 1930 und 1933, zwischen „Unter den Dächern von Paris" und „Der 14. Juli“, liegt (er hat sie später, leider, nie mehr erreicht) oder Jacques Feyder, der psychologisierende Naturalist, Jean Renoir, der Sohn des Malers gleichen Namens, impressionistisch in der Gestaltung des Atmosphärischen, realistisch, was Stoff und Darstellung angeht, der junge Grėmillon auch und der junge Duvivier, ferner die „Ausländer“ Cavalcanti aus Brasilien, der Spanier Bunuel (mit Cocteau dem filmischen Surrealismus huldigend) und der Däne Carl Theodor Dreyer (der mit der „Passion der Jeanne d’Arc"den bedeutendsten französischen Stummfilm schuf). Es war eine große, eine gewaltige Zeit für die Kinematographie als Experimentierfeld, als Mittel artifizieller Bemühungen.

NACH VORÜBERGEHENDEM STILLSTAND, teilweise auch Niedergang infolge der technischen Umwälzung durch den Tonfilm — eine Erscheinung übrigens, die allenthalben zu beobachten war —, erfolgte mit der Aneignung und Beherrschung des neuen Ausdrucksmittels wiederum eine glanzvolle Periode, bestimmt durch die Leistungen der „großen Vier“: Feyder, Renoir, Duvivier und Carnė. Eine erstaunliche Anzahl qualifizierter Filme wiesen insbesondere die Jahre von 1934 bis 1939 auf: „Das große Spiel“, „Nachtasyl“, „Die große Illusion", „Die menschliche Bestie“, „Ballordnung“, „Das Ende des Tages“, „Nebelkai“ u. a„ die auch von jüngeren Regisseuren, so etwa Marc Allegret, Chri- stian-Jaque, gestaltet wurden.

Diese Blüte welkte während der Zeit des zweiten Weltkrieges und der deutschen Besetzung, die durch Tod oder Emigration (Clair ging über England, Renoir über Italien nach Hollywood, wohin Duvivier und andere folgten) einen empfindlichen Schwund der künstlerischen Kapazität verursachten. Immerhin: mit dem reifenden Carnė, dęssen Werk dann 1945 in den unvergleichlichen „Kindern des Olymp“ gipfelte, mit Grėmillon, Claude Autant-Lara, dem „Lin-

ken“, Jacques Becker, dem „Regisseur der Jugend“, dem schon früh reputierten Delannoy und neuen Kräften, so beispielsweise H. G. Clouzot. dem späteren Meister des „thrillers", oder Robert Bresson, dem „Statiker“ des französischen Films, ging es einigermaßen erträglich, ohne größere Einbußen an Substanz. Freilich ist die filmische Ausbeute dieser Jahre umständehalber noch mehr durch ein schon immer vorhandenes, vjelfąęb als nachteilig bewertetes Charakteristikum, nämlich das mangelnde „engagement"(erst in der jüngsten Vergangenheit hat sich das geändert) bestimmt: man ignorierte bewußt die aktuellen Verhältnisse, vor allem die politische und soziale Gegenwart, und flüchtete, allenfalls mit allegorischen Andeutungen, die indessen selten verstanden wurden, ir die Unverbindlichkeit der Geschichte, ja des Märchens. Beispielhaft für diesen des öfterer gerügten „Eskapismus“ sind Carnės „Satansbeten“, Delannoys „Der ewige Bann“ und andere „Evasionsfilme“, die sich allerdings durch hohe Formqualitäten auszeichnen.

DER NACHKRIEGSFILM IN FRANKREICH bietet ein fluktuierendes, kaleidoskopartiges Bild. Jüngere und neue (ältere) Potenzen sind ihm aus allen Bereichen, der dokumentarischen Produktion wie der zelluloidfernen (im Grunde jedoch — ein großartiges Phänomen — so nahen!) Acadėmie Franęaise, aus dem Gerichtssaal wie dem Kabarett, der Redaktion wie dem Labor, zugewachsen. Es mögen hier in willkürlicher Folge für viele stehen: Georges Rouquier, der „Faktograph“, Andrė Cayatte, der „Advokat“, Jean Cocteau, Dichter, Maler, Musiker in einem; dazu Tati, der große, in der Nachfolge Chaplins stehende Komiker, Yves Allegret, Marcs Bruder, als Sozialkritiker jedoch weitaus massiver und aggressiver als dieser, Renė Clement, der „Widerstandsregisseur“, (mit Verspätung freilich), Jean-Paul Le Chanois, der Gestalter „riskanter“ Sujets.

Die thematische Fülle der Produktion ist schier unübersehbar, schlechterdings nicht zu ordnen. Da steht eine „Schienenschlacht“ (der Resistance) neben einem Märchen „Es war einmal“ (von Cocteau), die „Pastoralsymphonie“ neben existentialistischen Ausdeutungen („Das

Spiel ist aus“, „Orphėe“), Clouzotsche oder Dassins’sche Reißer neben religiösen Vorwürfen in beachtlicher Zahl („Monsieur Vincent“, „Eine Heilige unter Sünderinnen“, „Gott braucht Menschen“, „Das Tagebuch eines Landpfarrers“, „Der Abtrünnige“, „Der Mann, der sterben muß“), dazu der reizende „Monsieur Hulot“, der Tausendsasa „Fanfan“ neben einer „Madame de…“ (von Max Ophüls, der in Paris seine zweite Heimat fand), einer „Gervaise“, einem „Halbblut von Saigon“ (samt dem verpönten Indochina-Krieg!) und dies alles neben einer der großartigsten Erscheinungen, jenem wunderbaren „Roten Ballon“, den Albert La- morisse an der Grenze zwischen Realität und Fiktion, zwischen Spiel- und Dokumentarfilm (der in Frankreich immer eine bedeutende Stellung einnahm) als eine der überzeugendsten künstlerischen Leistungen geschaffen hat.

Bei aller stofflichen Vielfalt des französischen Lichtspiels herrscht in ihm, soweit es wesentlich ist, doch ein einziges, großes Thema vor: die „conditio humana“, die Bedingtheit, die schicksalhafte Bestimmung des menschlichen Lebens. Um welches Sujet es sich auch handeln mag, gleichgültig ob die Fabel angesiedelt ist, wann sich ihr Geschehen ereignet — in und über allem steht der Mensch im Gespräch mit seinem Geschick. So ist denn auch der tiefste Grund, in dem die wie kaum anderswo literarisch verpflichtete Filmkunst dieses Landes wurzelt, die „comedie humaine“ des gewaltigen Balzac. Aus ihr schöpfen die Gestalter vor und hinter der Kamera alles, was das Wesen ihrer artifiziellen Bemühung ausmacht: Esprit, Charme und Herz, die Mannigfaltigkeit der Gegenstände und Vorwürfe, formale Brillanz, Einfallsreichtum, hinreißende Erzählung, lebende Gestaltung, vor allem aber eine tiefe Menschlichkeit, eine innige Liebe zum Dasein, die betonte Zuwendung, das bedingungslose Ja zum Leben in allen seinen Höhen und Tiefen.

Es ist das wirklich „Existentielle" (das auch das „Essentielle", das Wesenhafte, umfaßt), was man darzustellen und zu erhellen versucht, die Realität insgesamt, die auch und gerade jene „unbeabsichtigte Wirklichkeit“ umfaßt, deren Verlust Ernst Kreuder einmal bedauerte, nachdem er den deutschen Film „Das doppelte Lott- chen“ gesehen hat. Hier ist in der Tat alles so sauber, so adrett, hygienisch, keimfrei; da gibt es keine Flecken auf dem Tischtuch, hat nirgendwo ein Hündchen hingepisselt. Man vergleiche hiermit eine französische Filmkomödie, etwa Beckers „Antoine und Antoinette“: da erscheint alles, wie es realiter ist, Milieu wie Requisit,’ der Mensch und auch die Welt, in der er lebt; da gibt es eine Atmosphäre, die man nicht nur sieht, die man geradezu riecht und schmeckt, die griffig dasteht und wo man zuzupacken versucht ist — auch wenn dabei die Hände schmutzig werden. Das aber ist die wahre Wirklichkeit.

Formal, bildstilistisch läßt sich Frankreichs Filmkunst, will man ihr nicht Gewalt antun, schwerlich auf eine bestimmte Richtung festlegen. Im Grunde ist sie realistisch — aber zwischen dem „Sur"-Realismus von Sartre-Delan- noys „Das Spiel ist aus“ etwa, oder dem magischen Realismus des Cocteauschen „Es war einmal“ und dem düsteren Naturalismus Zolascher Prägung, wie er beispielsweise in Renoirs „Hündin“ oder Carnės „Nebelkai“ zum Ausdruck kommt — da bestehen dpeh wesentliche, Unterschiede.. Man kann für den berühmten rr n?ösi-„ . sehen Kamera-Impressionismus hervorragende Beispiele anführen; man kennt jedöch auch exemplarische Fälle, die sich durch eine sehr expressionistische Optik auszeichnen, und findet Elemente dieser Ausdrucksformen vielfach in ein und demselben Streifen kontrapunktisch angewandt — so etwa in Renoirs Filmen (man vergleiche hier in „Nachtasyl“ zum Beispiel die impressionistisch anmutenden Szenen in der Gartenwirtschaft mit dem ganz expressionistisch photographierten Mord an dem Asylaufseher). Nein, der gegenständlichen Fülle des französischen Films entspricht der Reichtum der gestalterischen Mittel, die sich jeder ausschließlichen Zuordnung entziehen: es gibt in diesem Land keinen Film, der als das eine bestimmte Gattung am vollkommensten repräsentierende Muster angesprochen werden könnte.

Man kann die filmischen Hervorbringungen der Franzosen wohl nach außen hin, gegenüber den Produktionen anderer Länder, abgrenzen und das typisch „Französische“ ihres Wesens kennzeichnen. Zu den unterscheidenden Merkmalen gehören da die den Begriff „klassisch“ durchaus rechtfertigende, vollendete Einheit von Form und Inhalt, die gelungene Synthese der Wirklichkeit mit der darin waltenden Poesie des Lebens — eines Lebens, dessen mögliche Tragik ohne Sentimentalität, ohne Ressentiment aufge- zeigt, dessen Intimität ohne Scheu, jedoch mit Takt bloßgelegt wird. Ferner gehören dazu die Vorliebe für das Psychologische, das rege Interesse an allem Geistigen, am — es läßt sich nicht übersetzen — „esprit“ mit seinem Sinn für das Klare, Abgewogene und Schöne, seinem gelassenen Humor, seiner lächelnden Ironie, seiner Grazie und spielerischen Anmut. Sodann das hohe darstellerische Niveau, wahres, gekonntes Schauspiel, stets getragen von einem ausgeglichenen Ensemble, ganz ohne „Star" — oder mit lauter „Stars“ im Sinne von ungewöhnlich befähigten Darstellern. Und schließlich die sonst nur selten erreichte Meisterschaft einer ganz, zuweilen heftig der Sinnlichkeit des Schauens hingegebenen Photographie, einer subtilen, sublimierten Kamerakunst, die sich an Impressionen berauscht, ohne indes das Maß zu verlieren, die die Form über alles liebt, sie aber auch beherrscht, die ebenso weiche atmosphärische Stimmungen hinhaucht, wie sie Szenen von hartem, holzschnittartigem Charakter meißelt, die den Geist optisch darzustellen vermag, dem Gefühl ein Bild, dem Bild eine Seele geben kann — mit einem Wort: „Malerei mit der Palette des Films.“

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