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Europa — ein Mega-Freizeit-Park?

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Es war der in den USA lebende arabische Historiker und Kulturwissenschaftler Edward W. Said, der überaus provokante Thesen zum europäischen Kulturbewußtsein formulierte. Said betonte den sozialen Kontext der Kultur und zeigte auf, wie sehr die Dominanz der europäischen Kultur durch die territoriale Expansion des Kolonialismus und den darauffolgenden „Kultur-Imperialismus" begründet worden sei. Europa habe sich auch kulturell zum Zentrum der Welt gemacht.

Erst in der Phase des Zusammenbruchs der europäischen Kolonialstaaten, Großbritanniens und Frankreichs beispielsweise, seien diese Staaten mit nationalen Identitätsproblemen konfrontiert worden. Autoren wie Gustave Flaubert, Guy de Maupassant oder der Komponist Hector Berlioz seien ohne den Hintergrund des französischen Kolonialismus nicht denkbar.

Auch Schriftsteller wie Andre Gide oder Albert Camus hätten in ihren Werken immer den Standpunkt des (überlegenen) Europäers eingenommen.

Es scheine also, so Said, daß die eigene nationale kulturelle Identität immer auf der Unterlegenheit der Kulturen anderer beruhe. Da nun aber zunehmend die europäische Kultur von außereuropäischen Kulturen geprägt werde, könne niemandem mehr die Rolle des „Barbaren" zugewiesen werden.

Saids Überlegungen standen am Beginn des ersten „European Art Forum" im pfingstlichen Salzburg, bei dem sich rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Europa, aber auch aus den USA, aus Japan und Indien mit der kulturellen Identität Europas auseinandersetzten. Auf dem Hintergrund des politisch und wirtschaftlich immer enger zusammenwachsenden Europa ging es darum, die Rolle und die Chancen der Kultur in diesem Einigungsprozeß zu klären. Gerard Mortier, Initiator und Vorsitzender des European Art Forum, wollte ihr eigenständige und kreative Handlungsspielräume zuweisen, die eine „Festung Europa" verhinderten.

Er trat dafür ein, daß es besser sei, die Fragen klarer zu sehen, als den falschen Antworten hinterherzulaufen.

Und so viele Referenten (etwa dreißig), so viele Antworten kamen auf die Frage nach dem Spezifikum der kulturellen Identität Europas. Von den gemeinsamen Wurzeln aus den Einflüssen Athens, Roms und Jerusalems war die Rede, ebenso wie vom Artikel 128 des Maastricht-Vertrages, der die „Entfaltung nationaler und regionaler kultureller Identitäten" festschreibt und Werte wie „Freiheit, Demokratie, Toleranz, Ablehnung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" für das EU-Kulturkonzept betont.

Einig waren sich die meisten Referenten und Teilnehmer über die massive Herausforderung unserer kulturellen Identität durch die künftige Entwicklung der Massenmedien in Europa. So bezeichnete der kanadi-

sehe Kommunikationswissenschaftler Derrick Dekerckhove die geistige Umstrukturierung des europäischen Menschen vom „Renaissance-Menschen zum a-nationalen Internet-Anwender" als einzige Möglichkeit. So vertrat der Jurist Jörg Wenzel, Berater von EU-Kommissar Martin Bangemann, die Meinung, daß die Informationsgesellschaft eine Verbesserung der Lebensqualität für viele (Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Tele-Arbeit), aber auch den Verlust von Arbeitsplätzen für manche mit sich bringen werde, und daß ein aktives Mitgestalten dieser dynamischen Entwicklungen das Gebot der Stunde sei.

Verstärkt hat diese Position noch der gebürtige Slowake Jan Mojto, derzeit Direktor in der Kirch-TV-Gruppe, mit einem geradezu hymnischen Ausblick auf die digitalisierte Fernsehzukunft Europas, in der eine Vielzahl von Kanälen kostengünstiger für den Konsumenten eine neue Welle von (Kultur)Bedürfnisweckung herbeiführen werde. (Autoren, Kompo-

nisten, Sänger, Schauspieler kommen dabei allerdings zum Handkuß, denn infolge des Konkurrenzdruckes müßten die Ausstrahlungsrechte neu verhandelt werden!)

Als Gegner dieser „schönen neuen Welt" entpuppte sich der deutsche Philosoph Ulrich Hommes, als er die Beachtung ethischer, ästhetischer und religiöser Dimensionen einforderte und der Informationsgesellschaft den Vorwuf machte, daß sie - vornehmlich von wirtschaftlichen Impulsen geleitet - tiefere Aspekte menschlicher Seinserfüllung völlig außer acht lasse, zu der auch die Orientierung am Gemeinwohl gehöre.

Und während der deutsche Verleger Hubert Burda von einer weltweit verbreiteten europäischen Kultur träumt („Die neuen Medien ändern nicht den Inhalt!"), sieht der Direktor des Hauses der Kunst in München, Christoph Vitali, seine Aufgabe darin, intensiv Kulturvermittlung auch für bisher Außenstehende zu betreiben, bei der er sich der audiovisuellen Medien mit allen ihren Möglichkeiten bedient, aber:„Die CD-Rom ersetzt nicht den Ausstellungsbesuch!"

Als es um die spezielle Situation von Kulturfestivals geht (Sind sie nun Traditionshüter oder Trendsetter), heben zwei Künstler selbst die Gegensätze hervor: Der US-Regisseur Peter Seilars tritt für eine Dynamisierung des Publikums ein, wodurch Kultur in sogenannten „Erinnerungsprojekten" ihre besondere soziale Dimension entfalten kann (und erinnert dabei ans Samariter-Gleichnis der Bibel). Der Schweizer Komponist Rolf Liebermann betont die Oppositionsrolle aller qualitätvollen Kunst, die im Zeitverlauf zum Inhalt des kulturellen Erbes wird: „Tradierung braucht Erneuerung - auch die Kunstwerke der Vergangenheit sind in ihrer neuen Bedeutung für uns zu entdecken."

Kunstminister Rudolf Schölten stellte abschließend die Frage, ob heute überhaupt eine Definition europäischer Identität notwendig sei, und nicht einfach seitens der Europäer damit begonnen werden sollte, ihre NichtÜberlegenheit in der Realität zu leben. „Wenn wir allerdings Europa nicht in zehn Jahren als Mega-Frei-zeitpark erleben wollen, bedarf dies bewußter Entscheidungen ..."

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