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Europaschau bei Novalis

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Natur, Geschichte, Menschheit nennt Novalis an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert die drei Stützen eines zukünftigen Menschheitsfriedens. Natur als „Werkzeug wie als Medium“ das große, einzige Gegenbild der Menschheit, an dem dieser ein ähnliches Erlösungswerk zu wirken beschieden ist, wie es an ihr durch Gott getan wird. Natur in der Verschwendung ihrer Gestaltungen um der Verwirklichung ihrer Gestaltungsurbilder, ihrer Entelechie willen auch ein Vorbild der Sinngebung für die Mannigfaltigkeit der menschlichen Versuche, durch die Geschichte sich vervollkommnendes Bewußtsein in den verschiedensten Formen des Staates, der Kultur, der Religion zu organisieren. Nirgend anderswo als in der Natur wird der Mensch des großen Zugleichs, des Ineinanders und Nebeneinanders der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft inne und lernt an ihrem Vorbild das täuschende Nacheinander des Geschehenstromes, an dem er als Welle mit vielen anderen Wellen teilhat, zu einem geistigen Bilde zusammenzuschauen. An das letzte Geheimnis im Verhältnis des Menschen zur Natur tastet Novalis freilich nur mit einer Frage: .... ob nicht dieses Natursystem eine Sonne ist im Universo, die durch Bande an dasselbe geknüpft ist ..., die zunächst in unserem Geiste sich deutlicher vernehmen lassen, und aus ihm heraus den Geist des Universums über diese Natur ausgießen und den Geist dieser Natur an andere Natursysteme verteilen.“ Aber wann wurde die Aufgabe des Menschen an der Naturerkenntnis, die Auswertung dieser Erkenntnis für die Deutung- der Weit und des Seins, die Notwendigkeit, die Natur an dieser so erahnten Welt, an dem so gedeuteten Sein teilhaben zu lassen, die Gewißheit, mit solcher Seinsteilhabe andere, bisher unbekannte Naturen zu erschließen, weiterblickend, demütiger und erhabener zugleich gesehen?

Geschichte umschließt für Novalis, wie für die Romantik überhaupt, weit mehr als einen Erkenntniswert. Sie birgt den Hort aller Seinswerte schlechthin. In dem Glauben an sie verehrt die Romantik die größere Urbildnähe alles Vergangenen überhaupt, von der die Menschheit unschuldig-schuldig sich entfernt hat; sie verwahrt ihr wie eine Verheißung das Sehnsuchtsziel aller Zukunft: über das sich steigernde und dem vollkommenen göttlichen Bewußtsein sich nähernde Bewußtsein jene Nähe des Urbildes wieder zu erreichen. In dieser höchsten Entfaltung und Steigerung schaut Novalis das Bewußtsein mit dem „Gewissen“, dem „Geheimnis der höchsten Unteilbarkeit“ in eins; denn dieses ist ihm eine Art „urbildlicher Vernunft“, ja geradezu das Bewußtseinsvermögen des „himmlischen Urmenschen“.

Urbildlichkeit, Wesentlichkeit — nirgend walten sie für die Romantik verheißungsvoller als in der Einfachheit. Der Sinn der Geschichte lebt für Novalis in der „Schau der großen, einfachen Seele“, der der Geschichtsschreibung in der Organisierung historischer Wesenheiten aus der stofflichen Fülle der „fortschreitenden, sich vergrößernden Evolutionen“.

So vermag der romantische Mensch bewußter- und einbekanntermaßen nirgend weniger als in dem Nur der Gegenwart zu leben. Aber wenn leben heißt: die urwesentliche Spannung von Sein und Werden von Mal zu Mal weiterzureichen und deren .ewiger Einklang . das Unsterbliche des Lebens, ausmacht, wenn in diesem Einklang- Sein im Werden sich verwirklicht, Werden im Sein seinen Sinn empfängt, dann ist seit den Tagen der Romantik kaum eine Gegenwart seinsgebundener und zukunftstragender empfunden worden.

Mit dem Verlust dieser zeugensgewal-tigen Spannung zwischen der Ehrfurcht vor der Seinsmittlerschaft des Vergangenen und der Hingabe an die Werdensgewalt des Kommenden, mit dem Erkalten des Schwebegefühls zwischen schlechthiniger Abhängigkeit vom Sein und der Freiheit im Werden ging die menschliche „Mitte“ in den an sich großartigen Vereinseitigungen des erstarrenden Historismus .und des der Seinsbindungen sich entledigenden Positivismus unter. Ohnmacht vor dem Sein und Vergewaltigung des Werdens — beiden Grenzen ist die menschliche Existenz ausgesetzt.

So sind die Zeiten unmenschlich geworden, von Furcht durchtränkt, ähnlich jenen der vergehenden Antike, in. denen das Gespenst der Todesfurcht um. die üppig besetzten Tische und zwischen den unsterblich schönen Gesängen geisterte. Der Jüngling mit der zur Erde gesenkten Fackel, noch der Antike, der alten Welt des Todes entsprossen, wandelt sich zu Christus, dem Erlöser, der durch seine Opferung jene alte Welt überwunden und seinen gemarterten Leib zum „Grundstein der Gottesstadt“ in die Erde gesenkt hat. Im Erlöschen des irdischen Lichtes führt er die Nacht der Offenbarung, Golgatha als die Überwindung der Todesfurcht herauf. Im Weltenbrand, der auf dieser Schädelstätte sich entzündet, bleibt „unverbrennlich ... das Kreuz, eine Siegesfahne unseres Geschlechts“.

Damit ist in der Schau des Novalis das Himmelreich zum einzigen wirklichen und möglichen Reich auch der Welt geworden, und den Staaten der Erde ist es aufgegeben, dieses Reich zu erfüllen. Auch der Staat ist Mittler jener Christustat und des Reiches, das sie geweckt hat. In der Übertragung der Mittleraufgabe auch auf den Staat und damit der Aktivierung der Religion auch im staatlichen Leben sieht Novalis die einzige Möglichkeit, die Welt seiner Zeit aus einem Zustand ähnlicher existentialer Furcht und Ausgesetztheit herausführen zu können. Seine Staatsauffassung ist durchdrungen von einem Universalismus, welcher der tiefen wesensmäßigen Zusammenhänge von Staat, Kultur, Politik, Menschheit, Religion stets eingedenk ist. Wie er das Wesen aller Verfassungspolitik gerade darin zu erkennen glaubt, Gesetz und Kultur in das jeweils richtige Verhältnis zu setzen, und einzig und allein darin die Möglichkeit sieht, „das politische Hauptproblem“ lösen zu können: die Menschen als Masse zu leiten und zu einem organischen Ganzen durchzubilden, so gewinnt in seinem Bilde vom Staat auch der Gedanke Gestalt, daß nur das Gesamt aller wirklichen Staatsformen, aller politischen Parteiungen und Anschauungen, aller wirklichen Staaten der Verwirklichung jenes Gottesgedankens vom Staat und damit der Realisierung des Friedens sich nähern könne. Daraus folgt: allein in der Mannigfaltigkeit dieser Formen sowie in ihrer Gegensätzlichkeit kann fruchtbare Spannungsdynamik, unendliche, reale Angliederung der einen Idee vom Gottesreich und endlich die Freiheit in der Wahl des Weges der Verwirklichung bei Bindung an das universelle Seinsziel verbürgt sein.

Was jüngst als Forderung an unsere Zeit und die Welt ausgesprochen wurde: Die Notwendigkeit des „Gesprächs der Feinde“ (Friedrich Heer), gemahnt in manchem an ähnliche Beschwörungen des Zeitgeistes durch Novalis. Die Quintessenz des Staates, das, was dieser Romantiker den „genialischen Staat“ nennt, ihm gelte es erreicht in der „Reunion der Opposition“. Wie ihm Toleranz gleichbedeutend ist mit der Einsicht in die „Relativität jeder positiven Form“, so erblickt er gerade in der Religion das demokratisierende, die Freiheit der Persönlichkeit wie des staatlichen Rechtsindividuums erst verbürgende Element. Die Vision eines europäischen Friedens, ja die Gleichsetzung abendländischer Inbegrifflichkeit mit dem Frieden der Menschheit formt Novalis vom Mittelalter her, weil er in diesem die Religion noch als fraglos sich darlebend zu erkennen vermeint. Bei dem jüngsten Deuter des Mittelalters, bei Friedrich Heer, dessen Bild des Mittelalters nicht weniger teilhat an seinen Gedanken über die Möglichkeiten und Voraussetzungen eines europäischen Friedens in der Welt, ist die Religion der Gegenstand jenes großen „Agon“, jenes Streitgesprächs zwischen den beiden universalen Gewalten der Christenheit, in dem Heer den Anbeginn und Inbegriff des abendländischen Wesens, das, was das Leben des Europäers lebenswert macht, zu erkennen, und in dem er die Sinngebung des europäischen Daseins auch für die Zukunft, seinen ideellen vorbildhaften Wert für die Welt auch bei Verlust der letzten Machtposition in ihr zu sehen vermeint.

Noch decken sich im Europabilde des Novalis die Begriffe Europa und Christenheit. Noch ist ihm das friedestiftende Forum als letzte Instanz unter dem Vorsitz des Papstes geistlich. Schon ahnt er aber, daß auch höhere Kulturrevolutionen, weitere Erkenntnisse durch das Wissen, wenn sie nicht mit einer Vertiefung unseres „Sinnes für das Unsichtbare“, für das göttliche Sein einhergehen, fragwürdig werden können. Schon spricht er einer innigeren Verbindung der verschiedenen Formen des Christentums das Wort und dünkt ihn eine lebendig wirksame Christenheit als die eine sichtbare Kirche schlechthin, als das einzig mögliche Reich, das Reich Gottes auf Erden und alle Landesgrenzen hinaus, dessen Erneuerung er sich eben noch immer als eine abendländische Erneuerung denken kann.

Wir stehen heute betroffen vor dem Abgrund, der sich zwischen kulturellen und wissenschaftlichen Hochleistungen hier und Atavismen und Entartungen „menschlicher Beziehungen“ dort auf tut, die auch die höchste jener Errungenschaften zur Meintat am Menschentum und seiner Würde umfälschen können. Wir ringen in einer „Anatomie des Friedens“ um jene — wenn auch säkularisierte — dritte Instanz, jenes höhere Weltforum, vor das staatliche, ja kontinentale Streitfälle zum friedlichen Austrag gebracht werden können, und manche sehen gar nur mehr in einem Weltstaat mit einer Weltregierung diese Möglichkeit als gegeben an.

Wie immer: die Hoffnung, daß auch aus dem erschütterten Niedergang einer

Kultur — die „Anarchie“ nennt Novalis das „Zeugungselement der Religion“ — noch das Heiltum sich erneuernder Religion geborgen werden kann, das dann zum Grundstein neuer Kulturen zu werden vermag; die Erkenntnis, daß die neuzeitliche europäische Kultur — in ihrem Beginn nur die Wiedergeburt der griechisch-römischen — im gegenwärtigen Zeitalter des Verlustes ihrer Weltgeltung doch die Stufe für eine neue und wahre Universalität des Christentums in der Welt darstellen kann — eine Hoffnung und Erkenntnis auch des englischen Historikers und Geschichtsphilosophen Toynbee — sie hatten auch schon im Europabilde des Novalis ihren Platz.

Diese Tatsache mag auch die Besinnung auf die Schau des Abendlandes im Geiste dieses Romantikers rechtfertigen.

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