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Expressionismus im Kunsthandwerk

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In der Malerei und Dichtung ist der Begriff des Expressionismus geläufig, in der Architektur umstritten, in der Innenraumkunst und im Kunsthandwerk hat der Begriff sich kaum durchgesetzt.

Als Zwischenglied kann uns die Filmarchitektur der zwanziger Jahre dienen. Erinnern wir uns an die Dekorationen zu „Caligari“, aber auch an die Interieurs vieler Unter-haltungsfilme, so begegnen wir einer Formensprache, die eine überraschende Affinität zu den Arbeiten Dagobert Peches in der Wiener Werkstätte aufweist. Peches Formensprache ist zwar wenig kraftvoll, bisweilen von einer femininen Dekadenz bestimmt, aber das Bizarre seiner Zacken und Spitzen, das Manierierte der Proportionen, das Untektoniisehe im Aufbau verweisen ihn zum Expressionismus.

Dagobert Peches Einfluß bestimmt weitgehend die Arbeiten nach dem ersten Weltkrieg. Josef Hoffmann schafft zwar noch immer hervorragende Möbel und Schmuckstücke, nur weniges reicht aber an die erste Periode heran. Möbel bekommen elefantenhafte Füße, Geräte werden reich profiliert und mit spielerischem Dekor verseihen, Handgriffe werden zu Girlanden und Schalen mit Spitzen versehen. Gebuckelte Silberarbeiten beschwören barocke Formen, ohne deren Eleganz zu erreichen. Es ist auch aufschlußreich, daß zahlreiche Frauen für die Werkstätte arbeiten und die Mode sehr im Vordergrund steht. Daß die Wiener Werkstätte noch immer oder schon wieder Weltgeltung hat, ändert nichts an ihrem Anachronismus. Erinnern wir uns, was sich inzwischen in der Welt getan hat, um den Mythos der zweiten Periode der Wiener Werkstätte zu erkennen: Rietveld entwirft um 1918 seine Raumstruktursessel, Behrens ist seit 1907 „industriall designer“ bei AEG und zeichnet ganz einfache Lampen und Geräte, das Bauhaus arbeitet seit 1919 an strengen, sachlichen Entwürfen, Le Corbusier demonstriert den „Purismus“, Breuer entwirft um 1925 seine Stahlrohrsessel, Mies van der Rohe um 1929 den berühmten „Barce-lona“-Sessel — die Reihe ließe sich um viele Namen vermehren. In diese Reihe gestellt, verliert die Wiener Werkstätte etwas von ihrem magischen Zauber. Doch bleibt noch immer sehr viel: eine tadellose Handwerksgesinnung, eine hohe Qualität, ein Wissen um Material und Wirkung und eine beneidenswerte Phantasie.

Le Corbusier, Gropius, die Stijl-Gruppe: sie waren nicht nur Schöpfer neuer Formen, sondern Interpreten neuer sozialer Gefüge. Die frühen Arbeiten der Wiener Werkstätte legten den Gedanken nahe, es könne sich um Prototypen für die industrielle Fertigung handeln, etwa die einfachen, glatten Service oder gar die aus gestanzten Blechen einfach gefügten Körbchen und Tassen. Diese Entwicklungen wurden aber nicht weiter verfolgt. Und wenn Josef Hoffmann die Aufgabe stellte, für einen Arbeiter ein billiges Zimmer zu entwerfen, so war dies ein Einzelfall ohne Konsequenzen.

Der große gesellschaftliche Aufbruch wurde, echt wienerisch, ignoriert. Die Auftraggeber der Wiener Werkstätte waren zwar bereits reiche Amerikaner, aber vor allem jene noch immer sehr dichte spätbürgerliche Gesellschaft, die nach dem ersten Weltkrieg noch eine musisch-intellektuelle Durobträn-kung aufwies, die sie nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr erreichte. Die Wiener Werkstätte schuf für eine Gesellschaft, die noch im 19. Jahrhundert verankert war, wenn sie sich auch mit „modernen“ Gegenständen umgab.

Angesichts einer Analyse des sozialen Aspektes würde der Mythos der Wiener Werkstätte viel von seinem Glanz verlieren. Die Wiener Werkstätte ist für uns Geschichte, wenn auch vieles noch Aktualität besitzt. Für uns war es wichtig, ihre Bedeutung zunächst enthusiastisch zu betonen, um ihr sodann den richtigen und gebührenden Platz zuweisen au können. Unsere kritische Einstellung gilt nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit.

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