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FernOstliches Schattenbild

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Tsingtao, Shantung, Anfang August. Feuchtheiße Sommertage! Regen und Nebel hüllen nun Tag für Tag die Stadt ein. Tsingtao, die Hügelstadt am Gestade des Chinesischen Meeres, einst der Stolz deutscher Kolonisation, bis sich im ersten Weltkrieg die Japaner ihrer bemächtigten, hat jetzt die Regenperiode zu bestehen. Das bedeutet üble Wochen bis Mitte August, ungesund in schwüler Hitze, gefährlich dem Fremden, der dieses Klima nicht gewohnt ist.

Die Natur, unfreundlich und drohend, scheint die heutige Lage der Stadt widerspiegeln zu wollen. Tsingtao ist heute eine eingeschlossene Stadt, für die der Krieg noch nicht aufgehört hat. Schon seit Monaten ist Tsingtao von einer chinesischen kommunistischen Armee hermetisch vom Hinterlandc abgesperrt. Man schätzt die Kräfte der Belagerer, die vom Land her in großem Umkreis die Stadt umlagern, auf 150.000 bis 200.000 Mahn. 'Bisher haben sich die kommunistisdien Angreifer mit der Einschließung begnügt, ohne einen Sturm zu wagen. Sie würden keinen freundlichen Empfang finden. In dem Vorgelände von Tsingtao erheben sich auf den Hügeln zwischen den Panzerwerken des zuerst von den Deutschen angelegten, dann von den Japanern verstärkten und nun wieder instand gesetzten Festungsgürtels die Wacht-türme der Verteidiger. Die ganze Stadt ist in Abwehrstellung gerüstet. An allen Straßenkreuzungen sperren massive Betonklötze den Eingang, Verteidigungsstände nach den Regeln moderner Fortifikation errichtet. Bunker und Maschinengewehrstände umgeben die offiziellen Gebäude. Vor dem Oberkommando sammeln sich jeden Abend die schweren Tanks, zum sofortigen Einsatz bereit. Nächte mit Regen und Sturm sind die beliebte Angriffszeit der Feinde. Von 11 Uhr nachts bis 5 Uhr früh gilt der Belagerungszustand. Wer zu dieser Zeit auf der Straße getroffen wird, ohne das Losungswort zu wissen, wird erschossen. Immer wieder werden neue Truppen aus--gehoben, man ist daran, eine eigene Volksmiliz aufzustellen.

Ist die Stadt wirklich.in Gefahr, sind in Tsingtao nicht amerikanische Truppen stationiert, so daß die Verteidigung nicht auf die regierungstreuen chinesischen Truppen allein angewiesen ist? Eine Zeitlang bestand in der Bevölkerung Unsicherheit über die Absichten der Amerikaner, die seit der Entwaffnung der Japaner Tsingtao nicht mehr verlassen haben. Heute betrachtet man es hier als sicher, daß Amerika Tsingtao nie einer anderen Macht ausliefern wird. Vielleicht ist Tsingtao dazu ausersehen, Flotten- und Flugzeugbasis der USA am Gestade des Chinesischen Meeres zu werden. Die amerikanische Besatzung der Stadt ist nicht zahlreich, aber im Hafen liegt ständig eine amerikanische Armada. Im vorigen Herbst waren es an 30 Kriegsfahrzeuge aller Gattungen, darunter zwei moderne Flugzeugträger und ein Lazarettschiff, eines der drei bestausgestatteten neuen Schiffe, die Amerika besitzt. Auf dem Flaggschiff „Eldorado“ hat der Oberkommandierende der amerikanischen Flotte im westlichen Pazifik Admiral Charles Cocke jr. sein Kommandowimpcl gehißt. Außerhalb von Tsingtao, ungefähr zehn Kilometer von der Stadt entfernt, stehen amerikanische Kampfflugzeuge und schwere Transporter. Startbereit schwimmen in der Meeresbucht immer zwei oder drei Wasserflugzeuge. Alles ist auf dem Quivive, ruhig,entsdilossen. Man spürt den starken Willen, der die Kräfte regiert.

Wohin sind die Tage des einstigen blühenden Glückes dieser sdiönen Stadt entschwunden! Schwer liegt das Schicksal über diesem mächtigen Emporium des Ostens, das nach neuester Zählung gegenwärtig 700.000 Einwohner zählt. Das pulsierende Leben, Handel und Verkehr von einst, sind fast erdrosselt. Die Preissituation ist haltlos, die großen Fabriken liegen still, die Stadt verschlingt nur, sie- gebiert nichts mehr. Es gibt eine Einfuhr von der See her, von der Tsingtao lebt, aber keine irgendwie bemerkenswerte Ausfuhr. Dazu eine quählende Kohlennot. Immer wieder droht die Schließung des Elektrizitätswerkes, Telephon, Post und Wasserwerke sind von Störungen und schweren Defiziten befallen. Die Stadt scheint sich langsam selbst aufzuzehren. Nur unter großen Opfern fristet sie ihr Leben. Ihre Lage wird noch erschwert durch das Heer von Flüchtlingen, das zumal infolge der kriegerischen Umwälzungen im chinesischen Hinterland in ihren Mauern Unterstand gesucht hat. Offiziell werden 100.000 Flüchtlinge gezählt. Unter diesen allein 6000 Mittelsdiüler beider Geschlechter. An vielen Orten liest man Aufschriften, daß sich hier diese oder jene Mittelschule aus diesem oder jenem Landbezirk niedergelassen hat, der noch in den Händen der Kommunisten ist. Und deren gibt es nicht wenige in der nächsten Umgebung Tsing-taos. Das ganze Elend der Heimatlosen wohnt in den zahlosen Lagern, mit denen Tsingtao besät ist. Wovon diese Massen leben? Überall in der Stadt sieht man Kleinhändler, die Zigaretten, Zuckersachen und allerlei Kram anbieten. UNRRA und CNRRA haben geholfen. Wenn diese Aktionen, wie es angekündigt ist, ihr menschenfreundliches Werk einstellen, ist nicht abzusehen, was mit diesen Unglücklichen geschehen wird. Geldsammlungen, Lotterien, Theater- und Konzertaufführungen, besondere Flüchtlingssteuern, die in den Vergnügungsstätten, den Bars und Kinos und Tanzdielen eingehoben werden, suchen das Elend zu mildern. Der gute Wille ist größer als der Erfolg. Allerlei Krankheiten brechen aus dieser Menschenanhäufung hervor: physische und moralische; die Zahl der Verbrechen hat bedenklich zugenommen.

Trotz der militärischen Sicherheit, die Tsingtao zu bieten scheint, verlassen die meisten Ausländer die Stadt, nicht einer Gefahr wegen, sondern wegen der aussichtslosen wirtschaftlichen Lage. An erster Stelle sind es die deutschen und österreichischen Juden, die Asien den Rüdccn kehren wollen. Sie hatten sich hier nie heimisch gefühlt. Ihr Blick richtet sich nicht heimwärts, sondern nach dem „gelobten Lande“ Amerika. Von den übrigen Ausländern stellen den Hauptprozentsatz die Russen, zum Teil weißrussische Emigranten, zum anderen Sowjetrussen, die kürzlidi den Befehl zur Heimkehr aus Moskau erhielten. Sichtlich nicht zu ihrem Vergnügen, so .unerfreulidi hier die Lage ist. Viele Russen haben ihren heimatlichen Paß ablaufen lassen und sind so wieder staatenlose Emigranten geworden.

Eine Gruppe von Ausländern gedenkt aber Tsingtao sobald nicht zu verlassen! Die große Zahl von Missionären, die in dieser Hafenstadt Zuflucht fanden, da sie in den Gebieten, in denen die Kommunisten die Herren sind, ihr Wirken einzustellen gezwungen waren, zum Teil veranlaßt durch einen Ausweisungsbefehl. Besonders groß ist unter ihnen die Zahl der katholischen Missionäre. Seitdem der Nachfolger des ersten Bischofs dieser Hafenstadt, des Msg. Georg Weig, des Erbauers der hiesigen prächtigen Kathedrale, der voriges Jahr zum Kardinal erhobene Bischof Tien Thomas von der „Gesellschaft des Göttlichen Wortes“ als Erzbischof von Peking in die Hauptstadt berufen wurde, sind die Katholiken von Tsingtao in der Erwartung eines neuen Bischofs.

Während ich diese Skizze für die „Furch e“, diese erquickende Lektüre für einen Österreicher im Fernen Osten, vollende, bricht die Sonne durch die Wolken und bestrahlt mit ihrem hellen freundlichen Lichte die wassertriefenden Häuser und feuchten Straßen Tsingtaos. Regen und Nebel, von 3onnenblicken durchbrochen, das ist so recht ein Symbol des heutigen Chinas. In traurigem Bruderkampf zerfleischen sich die besten Söhne dieses großen Reiches, und nur selten fällt ein freundliches Licht auf die Massen des bedauernswerten Volkes.

Doch es beseelt uns die Zuversicht, daß die Sonne des Friedens und der Brüderlichkeit schließlich obsiegen und in nicht zu ferner Zeit die Stunde kommen wird, wo die Glaubensboten Christi wieder an die vorderste Front ihrer Arbeit im Dienste des Herrn eilen können.

Meine Herren, die Menschheit ist sichtlich von der Vorstellung des Todes besessen. Die Menschheit fürchtet sich vor sich selbst, vor ihrem Schatten, vor ihren Händen auf dem Tische, vor der halboffenen Lade, In der der gutgeölte Lauf des Brownings glänzt. Wenn die Menschheit nach und nach freiwillig und förmlich unerbittlich ihren ererbten Anteil an Freiheit einschränkt, indem sie versichert, sie bringe dieses Opfer, ihrem zukünftigen Glück, so glauben Sie Ihr keinen Augenblick. Sie opfert ihre Freiheit der Furcht vor sich selbst. Sie gleicht einem Besessenen des Selbstmordes, der, wenn er am Abend allein gelassen wird, sich an sein Bett fesseln läßt, um nicht versucht zu sein, den Gashahn aufzudrehen. Zu gleicher Zeit aber, da sie sich also selbst quält, sich als verantwortlichen Urheber ihrer Übel noch mehr zu hassen lernt, vervielfacht Ihr erfinderisches Genie die Werkzeuge und die Techniken der Zerstörung. Dieser wahnsinnige Aspekt der Geschichte plagt augenscheinlich alle Welt, da die Ursache ja leider in jedem von uns liegt.

Georges Bemanos: „Welt ohne Freihell“

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