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Fetische oder Heiligtümer?

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Die Kirche versucht, die Verehrung von wundertätigen Gegenständen nicht zu unterbinden, sondern in rechte Bahnen zu lenken.

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Die Kirche versucht, die Verehrung von wundertätigen Gegenständen nicht zu unterbinden, sondern in rechte Bahnen zu lenken.

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Wundertätige Gegenstände „haben für die Theologie und den Glauben eine geringe Bedeutung. Denn wer sagt, er glaubt an die Auferstehung, weil es das Turiner Grabtuch gibt, ist kein wirklicher Christ", umreißt der Wiener Dogmatiker Josef Weismayer gegenüber der FURCHE die Position der Kirche zu Reliquien. Im engeren Sinn werden darunter die Uberreste der Körper der Heiligen verstanden; im weiteren Sinn sind Reliquien alle Dinge, die ein Heiliger während seines Lebens benützt hat. Ihre Verehrung gründet auf den Glauben, daß die den Heilsmittlern innewohnende göttliche Kraft über den Tod hinaus wirkt. Zwar habe sie in manchen Epochen der Kirchengeschichte eine große Rolle gespielt, doch heute müsse man sich vor einer Überbetonung hüten, unterstreicht Weismayer. In den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils kommt das Wort „Reliquie" nur mehr im Zusammenhang mit der Altarweihe vor. Auch die neue theologische Literatur und sogar der Weltkatechismus schweigen sich darüber aus.

Ungeachtet davon erfreuen sich die Wallfahrten zu Orten, wo heilige Gegenstände aufbewahrt werden, großer Beliebtheit. Kirchliche Stellen sind bemüht, diese Art der Volksfrömmigkeit nicht zu unterbinden, sondern in rechte Bahnen zu leiten. Im Gegensatz zum Mittelalter soll eine Wallfahrt heute nicht von magischen Vorstellungen geleitet sein. So erwartet etwa die deutsche Moselstadt Frier ab Mitte April über eine Million Menschen, die zum Heiligen Rock (siehe Seite 16) pilgern. Der dortige Bischof Hermann Josef Spital betonte bei der Vorbereitung unermüdlich, daß es sich dabei nicht um ein^, Wallfahrt zu einem „wundertätigen Tuch" handelt, sondern um eine „Christus-Wallfahrt". Es gehe um Christus und um einen Zugang zu ihm. Dabei hat die Frage nach der Echtheit der Beliquie „religiös keine Bedeutung". Er möchte die Wallfahrt „so auf Christus ausrichten, daß Menschen unserer Zeit eine Beziehung zu ihm aufbauen können", erklärte Spital. Mit diesen Worten des Bischofs ist die heute oft gestellte Frage nach der Bedeutung von Reliquien am besten beantwortet.

Die Debatte um die Echtheit oder Unechtheit von Reliquien, wie sie auf den Seiten 14 und 15 über das Turiner Grabtuches geführt wird, kreist um eine vortheologische Thematik, für die in erster Linie kompetente Fachleute und Wissenschafter zuständig sind. Der von ihnen festgestellte Befund ist keine Glaubensaussage. Niemand soll sich deswegen zur Verehrung der Reliquie gezwungen fühlen. Man muß klar unterscheiden: Während sich der Historiker in der Dimension seines wissenschaftlichen Forschens um ein exaktes Resultat bemüht, befindet sich der gläubige Mensch in einer ganz anderen Dimension. Alle Ergebnisse über Material und Alter eines Gegenstandes können somit nur der Anfang des Anfangs sein. Sie können einen Perso-nalisierungsprozeß einleiten. Die Untersuchungen treten in den Hintergrund, wenn der gläubige Christ über die Reliquie hinaus im Gebet oder in der Meditation letztlich dem personalen Gott begegnet.

Eine Reliquie ist ein Erinnerungsgegenstand. Viele Menschen bewahren Dinge auf: Bilder aus alten Zeiten oder Fotos von früheren Ereignissen. Mein Großvater hob im Nachtkästchen einen kleinen Silberlöffel auf, den er in der russischen Kriegsgefangenschaft erhalten hatte. Vor dem Einschlafen nahm er ihn heraus, um uns Enkelkindern von seinen Erlebnissen in der Gefangenschaft zu erzählen. Ähnlich verhält es sich in der Gesellschaft: Eine Gitarre von Elvis Presley wird versteigert, oder in Mozarts Geburtshaus wird ein Museum eingerichtet. Solche Andenken helfen uns, vergangene Ereignisse in ihrer Konkretheit festzuhalten. Sie fixieren uns auf das, was einmal wichtig war. Wer etwas von einem bedeutenden Menschen besitzt, hat ein wenig Anteil am Leben dieses Mannes oder der Frau.

Das Sammeln von Erinnungs-stücken ist ein allgemein-menschlir ches Phänomen und in allen Kulturkreisen zu beobachten. Im antiken Griechenland sicherten die Gräber bekannter Helden eine Stadt. Zur selben Zeit stellten die Azteken in Mexiko die Gewändern von rituell Getöteten in ihren Tempeln zur allgemeinen Anbetung aus. Bis heute ist der Kult um Beliquien im Buddhismus stark verbreitet.

Zahlreiche berühmte Pagoden rühmen sich des Besitzes von Körperteilen des Religionsgründers oder einer seiner Schüler. Auch in einigen Moscheen werden Barthaare Mohammeds in Glasflaschen neben Turbanen und Gewänder islamischer Heiliger aufbewahrt. Wichtig für das Christentum ist ein Blick auf das frühe Judentum, zeigt sich doch an den Gräbern der Stammväter und der Propheten ein „Heiligenkult", in dem die Angerufenen als Mittler bei Gott auftreten.

Vom Grab gingen Licht und Wohlgeruch aus, und manchmal sind die Leiber sogar unverwest geblieben. Daraus resultierte der Glaube, die Heiligen „lebten in ihren Gräbern". Die Folge war eine lebhafte Wallfahrtstätigkeit und die Aufbewahrung von Reliquien. Bei den ersten Christen setzte der Kult zunächs.t bei der Verehrung der Märtyrer ein und erlebte im Laufe der Jahrhunderte eine umfangreiche Ausgestaltung (siehe Seite 16).

Erst die Neuzeit bewirkte einen völligen Bruch. Im 19. Jahrhundert war die virtuelle Präsenz der Toten, ihre himmlische Gegenwart auf Erden, wissenschaftlich unhaltbar geworden. Der Körper eines Verstorbenen war fortan „tot". Rasch wurden die Konsequenzen gezogen.

Man verlegte die Friedhöfe aus den Städten, statt des göttlichen Wohlgeruches sprachen die Priester nun vom „Pesthauch der Toten". Man begegnete den Reliquien mit Kritik und Spott, zuletzt mit Haß und Zerstörung. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wurden in den Kirchen die gläsernen Schreine mit Vorhängen abgedeckt, weggeschafft oder verbrannt. Wallfahrten erschienen als schichtenspezifisch für den meist dummen, an Aberglauben gewohnten Pöbel. Nur „Unaufgeklärte" und „ Zurückgebliebene" praktizierten noch ihren „Köhlerglauben", hieß es.

Die Tendenz, die Geheimnisse des Außergewöhnlichen und Wunderbaren zu klären, setzt sich bis heute fort. Die Wissenschaft kann inzwischen anhand modernster Methoden die Entstehungszeit und die Herkunft von Reliquien feststellen. Diese Ergebnisse sind für den Glauben nicht bedeutungslos. Sie können und müssen gegebenfalls zu einem radikalen Umdenken, zur umfassenden Neuorientierung und zur Abkehr von liebgewordenen Traditionen führen.

Der christliche Glaube muß sich, „sei es gelegen oder ungelegen" (2.Tim 4,2) dem Wort Jesu stellen: „Nur die Wahrheit wird euch frei machen." (Joh 8,32)

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