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Film zwischen Ost und West

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Die Bereitwilligkeit unserer Tage, das gesamte weltpolitische Geschehen an dem Gegensatz Ost—West zu messen, verführt leicht zu einer gleichen Gegenüberstellung im Reiche des Films. Tatsächlich hat diese Uberbelichtung auf den ersten Blich etwas Verlockendes für sich: vielleicht nicht ganz zufällig führt der programmatischeste Film einer eben in Wien beschlossenen vierten „Festwoche des sowjetischen Films" den Titel „Begegnung an der Elbe" Der Titel freilich bedeutet nicht viel mehr als eine vage Hoffnung, denn vorläufig stehen sich, wie im Reiche der Politik, so auch im Film, die beiden Metropolen, hier Hollywood und Moskau, der merkantil diktierte Unterhaltungsfilm der Amerikaner und der staatlich gelenkte Erziehungs- und Propagandafilm der Russen wie Eis und Feuer, als scheinbar unversöhnliche Welten gegenüber. Dazu brauchte es vielleicht nicht einmal eine so überdeutliche, sinnfällige Konfrontierung wie die kürzlich beendete sowjetische und die eben in Salzburg tagende amerikanische Festwoche — eine beliebige Stichprobe auch im täglichen Kinoprogramm erweist zur Genüge den Abstand der beiden Welten.

Aber vielleicht treiben wir diese Gegensätzlichkeit, geblendet durch eine Augenblickskonstellation. der Weltpolitik, doch zu ehr auf die Spitze? Nicht nur kulturgeographisch, sondern auch entwicklungsgeschichtlich gesehen, schiebt sich nämlich zwischen diese beiden Sphären eine dritte, die bei allem deutlichen Unterschied sowohl zu der überreifen Unterhaltungskonfektion von Hollywood wie zu der übertempierten pädagogischen Dynamik von Moskau auch die Möglichkeit, ja vielleicht den geschichtlichen Auftrag in sich birgt, zu vermitteln, auszugleichen: die west- und mitteleuropäische Kunstfilmtradition, vertreten heute vornehmlich durch Frankreich, England und Deutschland. Von hier über den Atlantik führen seit eh und je Brücken. René Clairs Avantgardestil konnte sich auch in Hollywood, nur wenig verschliffen, behaupten und entwickeln, Cocteaus und Oliviers klassische Filmkunst steht am Broadway so hoch im Kurs wie in der Heimat. Umgekehrt war dem Europäer nichts fremd an Chaplins frühen Sozialmärchen, an Garbos (russischer!) „Anna Karenina“, an Walt Disneys (niederdeutschem!) „Schneewittchen“. Wenn sich ähnliche Berührungspunkte auch zwischen der Mitte und dem Osten nachweisen lassen, würde sich der geistige Abstand auch von Außenpol zu Außenpol verringern, wenn picht heute, so vielleicht morgen, es müßte nur der Keim einer Annäherung vorhanden sein. Wie steht es damit?

Auf einem Diskussionsabend nach dem Abschluß der sowjetischen Filmwoche wurden die Grundzüge des heutigen sowjetischen Filmschaffens etwa so umrissen; Der Held des sowjetischen Films ist der kämpfende, ringende Mensch, ein Mensch der Tat, der, wie besonders der Film „Der wahre Mensch" dartut, durch die Kräfte seiner Seele und seines Geistes seinen Körper zu lenken vermag. E)aher ist der Film eine moralische Anstalt („In die schlechtesten russischen Filme kann man ruhig ein jedes Kind schicken, es kann nicht verdorben werden“). Den Stoff entnimmt der Film den operativen Werken des Sowjetalltags. Daher sein Realismus im Stil einerseits, andererseits der Züg zum Erzieherischen, Bildenden (Kultur- und Doku mentarfilm). Unterstrichen wurde die „Grundtatsache der Andersartigkeit der menschlichen Gesellschaft", doch wich die neuartige Formulierung: „Volk — eine Gemeinschaft von sich frei entfaltenden Individuen“ schon wesentlich von Eisensteins revolutionären Visionen vom kollektiven Träger der Filmhandlung, dem „Held : Masse“ ab.

Diese elastische Korrektur zeigt, daß der russische Film keiner starren Doktrin folgt, sondern Entwicklungen unterworfen, ja zugänglich ist. Ist mit der strengen These vom kollektiven Helden der „Panzer- kreuzer“-Zeit eine der wuchtigsten Schranken zu unserer Geistigkeit gefallen (auch die vielen biographischen russischen Filme der letzten Zeit beweisen dies), so bezeichnet auch die überraschende Berufung auf die Kräfte der Seele und des Geistes als die Lenker und Beherrscher der Materie („des Körpers“) eine nicht unbeträchtliche Entfernung von jenem konsequenten naturwissenschaftlichen Materialismus, der eine weitere Schranke zwischen hüben und drüben bildet. Von hier auf eine Bereitschaft des sowjetischen Films zu geneigterer, toleranterer Darstellung der eigentlich religiösen Sphäre zu schließen, wäre verfehlt, mindestens verfrüht. Nach wie vor schweigt der russische Film von Gott, nur seine Priester werden nicht selten in schiefer Belichtung, als Diener volksfremder, kapitalistischer Interessen gezeigt. (Millionen Menschen beten daneben in Rußland, gehen zur Kirche und bekreuzigen sich offen oder heimlich: der Film kennt sie nicht; in seinen Ikonenecken lächelt Stalin oder mahnen Sichel und Hammer ). Auch die nationale Ideologie steckt noch tief im historischen Materialismus: die Sowjet-Gesell schaft, so formuliert der Film „Das Ehrengericht“, ist eine Gesellschaft von 200 Millionen Aktionären

Unbestritten dagegen ist nach wie vor die absolute Würde und Sauberkeit des russischen Films in der Stoffwahl. Ein Diskussionsredner traf den Nagel auf den Kopf durch eine Konfrontation des amerikanischen Films „Arzt und Dämon“ mit dem russischen „Das goldene Hörn". Tatsächlich ergibt ein Vergleich der erdrückend vielen amerikanischen Abenteurer- und Gruselfilme, der englischen Gesellschaftsund der französischen Halbwelt- und Unterweltfilme mit den russischen Biographien und historischen Filmen, mit ihren folkloristischen Kultur- und von ungebrochen reiner Phantasie beflügelten Märchenfilmen ein nicht unbeträchtliches Debet für den angekränkelten, überzüchteten Sensationshunger des „westlichen“ Films. Hier ist eine der gesündesten Wurzeln des Films, die Erfüllung des fortschreitend monotoneren Alltags und Arbeitstages des modernen Menschen mit Bewegtheit,

Schönheit und Erfolg in den Pfoten bedenkenloser Moneymaker zu einer Geißel für die Menschheit geworden. Und es hilft wenig, wenn 650 boxenden, schießenden und ehebrechenden Helden im Jahr e i n Mädchen von Lourdes, e i n verfolgter mexikanischer Priester, e i n Boys-Town-

Gründer entgegengestellt wird. Hier kann bei aller hochentwickelten technischen Fertigkeit und manchen edlen, schönen Zügen schlecht mehr von einer sittlichen Vorrangstellung, einem künstlerischen Weltprimat von Hollywood gesprochen werden. Vielmehr sehen manche Menschen heute, die einen triumphierend, die anderen verstört, den Vorrang der Filmherrschaft in andere, kulturell trächtigere Zonen abwandern. Die Waage schwankt, noch ist die Entscheidung nicht gefallen.

Hier eröffnet sich ein ungeheures Aufgabenfeld für den Film der erwähnten „Mitte“. I aß der Film der Zukunft nicht der politisch instrumentierten Erziehung und Massenlenkung allein gehört, hat unter anderem das Schicksal des deutschen Trümmerfilms gelehrt, von dem sich das ewig nur belehrte und bekehrte Publikum schon nach wenigen Jahren ermüdet abgekehrt hat. Daß andererseits die konsequente Holly-Wut der raffinierten Sensation und des kalt errechneten Sentiments nahe am Bankerott ist, ist gleichermaßen evident. Die Frage ist also, ob und wie weit die abendländische Kunsttradition noch die Kraft hat, nach beiden Seiten auszustrahlen, zu geben und selber von Ost und West das Gute aufzunehmen und einzuschmelzen. Unterhaltung, Kunst, Erziehung — Traumfabrik, Kunsttempel und moralische Anstalt — sind, genau besehen, nicht unvereinbare Gegensätze, sondern bloß verschiedene Ausdrucksformen ein- und derselben neuen Art, das Leben und die Menschen darzustellen: des Films. Eine ideale Vereinigung dieser drei Richtungen ist denkbar, ja geboten, soll der Film nicht seine durch Tonkulisse und Weltkrise auf- gesprengte Universalität endgültig verlieren.

So gesehen, sind für uns amerikanisch und russische Filmfestwochen, solche ungewöhnlichen Begegnungen an der Donau, der sinnfällige Ausdruck einer starken Hoffnung. Und wenn wir Österreicher in diese stürmische Entwicklung auch nicht entscheidend eingreifen können, so sind doch in diesem Lande, dem Jahrhunderte alten Schmelztiegel nationaler Eigentümlichkeiten, Verständnis und Bereitschaft genügend vorhanden, um den Ernst und die Bedeutung einer solchen Stunde — einer solchen Wende? — zu erkennen.

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