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Filmdokument und Illusion

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Mit dem Kulturfilm begann vor mehr als fünf Jahrzehnten der Film. Damals hieß er ' Naturaufnahme und war einfach Abbild des bewegten Lebens, eine technisch oft noch unbeholfen im Bild gefaßte Wirklichkeit. Lumiere sprach der Frucht seiner Erfindungsgabe keine andere Zukunft zu, als Dokument zu bleiben, und Regisseure der Gegenwart wie G. W. Pabst seilen der Faszination des Illusionsfilms zum Trotz im Dokument die Zukunft der Filmkunst.

Aber der Kulturfilm ist heute schlechtweg aus seiner Existenz gedrängt. Er hat keinen Weg zum Publikum. Das Stammpublikum der Kinos erwartet den Spielfilm und sucht die Zerstreuung der Illusion, statt sich zur Sammlung dem Dokument gegenüber zu zwingen, die Zuschauer aber, die den Dokumentär- und Kulturfilm suchen, 6ind nicht ständiges Publikum der Kinos und Matineen und Sonderveranstaltungen, ungünstig in der Zeit gelegen, sind nur ein schwacher Ersatz für die Resonanz eines Films im Lichtspieltheater. Der Kulturfilm hat als abendfüllender Film weder Steuerfreiheit, noch bewirkt er als Kurzfilm Steuerermäßigung für das Lichtspieltheater, so daß der Kinobesitxer sich fragt, warum er sein Programm noch verlängern und — durch die Kosten des Kulturfilms — seine Einnahmen verkürzen soll, wenn ihm deshalb nicht mehr Besucher in die Vorstellung kommen. Diese Uber-legung bewirkt aber nicht nur, daß der Kulturfilm nicht gezeigt, sondern auch, weil sdiließlich jeder Film von seinen Zuschauern finanziert wird, daß er auch nicht gemacht werden kann.

Also ein bündiger Sdiluß und eine unabänderliche Tatsache. Wir haben auf so viel verzichten müssen, warum nicht auf den Kulturfilm. Beschränken wir uns eben auf den Spielfilm, wird mandier folgern und dabei übersehen, weldie vitale Funktion dem Kulturfilm im Filmschaffen eines Landes zukommt. Denn es scheint mir kein Zufall zu sein, daß der Film mit dem Dokument begann und sich zur Illusion weiterentwickelte.

Der Kulturfilm stellt seinem Schöpfer eine begrenzte Aufgabe. Er stellt ihn vor eine unbegrenzte Wirklidikeit und fordert von ihm, aus dieser Wirklidikeit ein begrenztes, erfaßbares Ganzes zu formen. Der Kulturfilmsdiöpfer kann den Gegenstand seiner Darstellung und die Bedingungen seiner Aufnahme nidit willkürlich modifizieren, er hat die Natur zu nehmen wie sie ist, er hat ihre Äußerungen geduldig zu erwarten, ihre Launen zu überlisten, um aus 2ufälligen Impressionen eine Anschauung zu formen. Diese Aufgabe ist strenger und freier als die seines Kollegen vom Spielfilm. Der Kulturfilmschöpfer kann weder seine Darsteller, seien es Menschen, Tiere, Landschaften oder anderes, noch seine Aufnahmebedingungen, wie Licht, Bühne, Zeitpunkt und Szenenaufbau, kommandieren, er muß sich ihnen anpassen, aber er bleibt auch vor der Gefahr des Spielfilmschöpfers, unter Mißachtung der Gesetze der Wirklichkeit eine willkürlich aufgebaute Welt ins Leere zu projizieren, weit eher bewahrt.

Noch eines kommt dazu. Der materielle Aufwand des Kulturfilms ist meist besdiei-dener als der des Spielfilms. Weil seine Darsteller nichts kosten, weil er den unerbittlichen Zwang der Ateliertage nicht_ kennt. Man kann das auch anders sagen: Der technische Apparat, mit der die Vision ins Bild verwandelt wird, ist beim Kulturfilm kleiner als-beim Spielfilm. Darum -kann, er leichter als dieser von einer Persönlichkeit überschaut und beherrscht werden und gewährt seinem Schöpfer eher die Chance der Entfaltung seiner Persönlichkeit unter der strengen Zudit einer begrenzten Aufgabe.

Diese beiden Aspekte scheinen mir die Bedeutung des Kulturfilms für die Entwicklung des Films zu begründen. Der Film ist jene geistige und künstlerische Au.sdrucks-form, die infolge ihrer wirtschaftlichen Bedingungen ihren Schaffenden am wenigsten die Chance des Experiments gestattet. Vielleicht können sich Weltkonzerne in einer Jahresplanung ein oder zwei Experimente leisten, die kleinen Produzenten gehen meist beim ersten mißlungenen Experiment zugrunde und wagen es deshalb von vornherein nicht. Es gibt aber keine Weiterentwicklung, keinen anderen Vorstoß weg vom gewohnten Klischee als das Experiment. Wie und wo soll 6ich der neue Mann, den der Film braucht, bewähren, wenn nidit bei der Arbeit an einem Film, bei der Führung der Kamera, bei der Gestaltung der Bildfolge? Wie selten aber wagt man es, einem neuen Mann den komplexen Apparat eines Spielfilms wirklich in die Hand tu geben! Hier bietet der Kulturfilm die Chance! Er setzt seinen Schöpfer vor eine begrenzte Aufgabe, die er nidit durch das virtuose Spiel eines Sdiauspielers, sondern durch die eigentümlichen Ausdrucksmittel des Films lösen muß.

So wie der beginnende Maler anfängt, das Modell werkgetreu wiederzugeben, ehe er seiner Phantasie die Zügel sdiießen läßt — und gerade bei den Größten ist die gewissenhafteste Werktreue stets ein Teil der Größe ihres Schaffens geblieben —, so wird nur der Sdiriftsteller ein Meister der Sprache, der fähig ist, auch die einfache, alltägliche Wirklidikeit mit ihr darzustellen, ein Tier, eine Droschke, ein Menschenantlitz in Worten zu erschaffen. So erweist sich auch, ob ein Filmgestalter die Ausdrucksmittel seines Mediums beherrscht, nur daran, ob er eine beliebige Wirklichkeit im Filmbild bewältigen kann.

Vor vielen Jahren war einmal geplant, eine Kulturfilmserie über Frankreidi herzustellen, in der jeder der großen französehen Regisseure, wie Duvivier, Carne, Clair, Renoir und andere, einen Kulturfilm über eine bestimmte französische Landschaft machen sollte. Idi weiß nicht, ob der Plan ausgeführt wurde. Es hätte eine großartige Serie entstehen können, denn in der Art, wie ein Regisseur mit der Wirklidikeit fertig wird und sie dem Zuschauer, nahebringt, enthüllt sidi seine Persönlichkeit.

So ist es keine Überraschung, daß viele für die Entwicklung des Films wesentlich gewordene Gestalter aus der Schule des Dokumentarfilms kommen. Rossellini, der den Anstoß zur „neorealistischen italienischen Schule“ gab, kommt vom Dokumentarfilm. Drei kurze Filme, zwei davon Fisch--Studien, waren sein Gesellenstück bei der LUCE in Rom, seine Dokumentarhaltung bewies sich in zwei Kriegsfilmen, einem, der auf einem Lazarettschiff spielte, zu dem er das Buch schrieb, und einem über eim-n „heimkehrenden Piloten“, bei dem, er Regie führte, bis er 1945 aus der Not eine Tugend machte und aus dieser Haltung Stil und Arbeitsweise des Dokumentarfilms in den Spielfilm verpflanzte. Alberto Caval-canti kommt vom Dokumentarfilm, Marcel Carne begann als Amateurfilmer, Carl Dreyer schuf eindrucksvolle Kulturfilme, der größte englische Regisseur Carol Reed tat den ersten Sdiritt zur Meisterschaft und zu seinem eigenen Stil in dem großen Dokumentarbericht über den zweiten Weltkrieg „The True Glory“, den er zusammen mit dem amerikanischen Regisseur Grason Kanin gestaltete. Die Beispiele ließen sich vermehren.

Hier liegt die Funktion des Kulturfilms. Er soll und kann Schule und Experimentierstätte für neue Menschen und neue Aut-drucksmöglichkeiteft des' Films sein. Indem er seinen Schöpfern Aufgaben stellt, die Ehrfurcht vor dem Objekt fordern, gibt er ihnen die Chance, aus dem Bericht eine künstlerische Aussage zu gestalten. Er sollte notwendiger Erneuerungsquell für den Spielfilm sein, der immer wieder aus seinen

Anregungen seine Ausdrucksmittel erweitern und aus seinem Menschenreservoir seine schöpferisdien Gestalter holen könnte.

Fehlt der Kulturfilm in einem Land, so geht seinem Film diese Quelle der Erneuerung verloren. Der Spielfilm ist überwiegend konservativ, aus kommerziellen Bedingtheiten muß er es sein. Aber wenn er nicht zwischendurch immer wieder den Vorstoß zu neuen Wegen wagt, sei es audi nur in einem Film, der sein Echo vielleicht erst auf dem Umweg über das Ausland findet — die Russen sind auf die Bedeutung ihres „Potemkin“ für die Filmentwicklung erst gekommen, als die Deutschen die Revolution erkannten, die dieser Film bedeutete, die Deutschen erkannten die Einmaligkeit von Fritz Längs „Müdem Tod“ erst, als die 'Franzosen dieses Werk begeistert priesen, die Franzosen wieder verstanden Dreyers

„Passion der Jean d'Arc“ erst im Echo der deutschen Bewunderung, und den Italienern gingen die Augen für Rossellini| neuem Versuch erst durch den aufgeregten amerikani-sdien Widerhall auf —, wenn der Spielfilm also nicht neben die gewöhnlidie, alltäglidie Leistung die außergewöhnliche und neue stellt, dann wird er sdial und erstarrt, seine Ausdrucksmittel werden zur Schablone, er ist im Abstieg. Eine solche Entwicklung läßt aber dann auch den Geschäftsmann nicht gleichgültig, denn solche Filme locken ihr Publikum immer weniger an, eine Erfahrung, an der selbst Hollywood nicht vorbeigehen konnte.

Darum ist der Kulturfilm nicht nur wegen seiner Bedeutung für das Publikum, dem er neue Anschauungsbereiche erschließt, sondern ebenso wegen seiner Bedeutung für die Erneuerung der Filmproduktion für jedes filmproduzierende Land lebenswichtig. Er kann sich — wenn man nicht neben dem Filmbetrieb eine eigene Organisation aufbauen will — den Weg zum Publikum und damit zu seinem Finanzier nur schwer bahnen. Gerade deshalb müßte sich eine weitsdiauende Kulturpflege seiner annehmsn. ihn wirtschaftlich begünstigen und ihm die Spielzeit sidiern, deren er zu seiner Existenz bedarf.

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