6615607-1955_29_09.jpg
Digital In Arbeit

Filmfestspiele des Publikums

Werbung
Werbung
Werbung

Berlin, im Juli Die Filmfestspiele in Berlin unterscheiden sich von den älteren Veranstaltungen in Venedig und Cannes wesentlich: sie sind nicht in erster Linie eine Manifestation für die Gäste aus aller Welt, sondern eine Manifestation der Welt für die Berliner. Wer die Stadt am Flughafen Tempelhof betritt, wo in ununterbrochener Folge die Flugzeuge anrollen, und dann im Auto zwischen gepflegten Straßen und Bombenwunden zum Kurfürstendamm fährt, wo das hektische Leben einer großen Metropole pulsiert, der spürt aus dieser ersten Begegnung schon das Ringen dieser Stadt um Genesung. Wer aber dann hinüberfährt über die Ost-West-Achse zum Brandenburger Tor, zum Potsdamer Platz, durch Ruinenviertel, an vermauerten Haustoren an der Zonengrenze vorbei, durch ein Niemandsland, über das wie Zivilisten zwischen den Fronten zuweilen gedrückte Menschen eilen, der weiß, daß diese Stadt mit ihren 2,2 Millionen Einwohnern im Westen eine Insel ist, eine Insel der westlichen Welt, ummauert von einem unsichtbaren, aber dennoch eisernen Vorhang.

Filmfestspiele in Berlin geben dieser Stadt, die jahrzehntelang das Zentrum des deutschsprachigen Film war, durch zwölf Tage eine Manifestation jene Kulturfaktors der westlichen Welt, der die größte Breitenwirkung erreicht und machen sie zum Treffpunkt füi Gäste aus aller Welt, tragen den Glanz der Filmzentren und Rivierabäder an den Kurfürstendamm und reißen den Vorhang nieder, der am Wannsee und bei den Linden die Sicht beengt. Sie geben mehr: sie geben auch den Menschen aus dem Osten einen Blick in die westliche Welt. Denn nicht nur der Weg über das Niemandsland, auch die Untergrundbahn fährt diesseits und jenseits der Zonengrenze und das Corso, ein Kino nahe der Zonengrenze, führt einen Teil der Festspielfilme nur für die Ost-Berliner auf, zu einem billigen Preis, denn der Wechselkurs von fünf Ostmark für eine Westmark macht ein Einkaufen für Ost-Berliner in West-Berlin schwierig.

Diese besondere Situation gab den Fünften Berliner Festspielen ihr besonderes Klima. Es gibt keine Jury, die nach besonderen Rücksichten entscheiden kann. Jury ist das Publikum, Berliner und Gäste, die mit ihren Eintrittskarten abstimmen. Ausgezeichnet, gut. mittelmäßig und schlecht kann jeder Besucher mit seiner Eintrittskarte zu dem Film sagen, den er gesehen hat, und ihm so vier, drei, zwei oder einen Punkt geb.en. Die Summe der Punkte wird durch die Zahl der abgegebenen Stimmen dividiert, so daß jeder Film eine Note zwischen vier und eins erhält und nach ihrer Höhe in der Rangliste eingestuft wird. Den Preis erhält, was dem Publikum, einem filminteressierten Festspielpublikum natürlich, gefällt.

Die Entscheidung, die am letzten Tag der Festspiele bekanntgegeben wurde, muß daher vom Publikum her kommentiert werden. Da ist der erste Preis für die Gerhart-Hauptmann-Verfilmung .,D i e Ratten“. Ein Gegenwartsfilm. Schauplatz Berlin, ein Berlin der Hinterhöfe und Speicher. Hintergrund die Zonengrenzen. Eine Tragödie der Mutterschaft, der Kampf um das Kind der Pipen-karka mit Happy-End. Diese Ratten beißen nicht, man hat ihnen den Gegenspieler des wilhelminischen Deutschland genommen, man hat sie erschlagen {bildlich und buchstäblich, denn Curd Jürgens, der Bruno Mechelke des Films, im Drama der Mörder, wird im Film ermordert, und die ermordete Pauline lebt). Aber schauspielerisch ist das großartig. Die Hatheyer als Mutter John mit ihrer Kälte, ihrer Kraft, die Schell als die im Spiel am meisten Hauptmannsche Figur, ein großartiges Versenken in ihre Rolle, aus der nur zuweilen ihr eigenes Wesen durchbricht, das überspielt die Schwächen des Buches und rührt an.

Seltsam, daß neben diesem düsteren Effektstück die Berliner den zweiten Platz einem religiösen Film zuerkannten, dem spanischen „M a r c e 11 i n o P a n Y V i n o“, einer feinempfundenen Legende von einem Jungen, der, im Mönchskloster aufgezogen, seinen innigen Wunsch, eine Mutter zu haben, durch den Heiland selbst, dem er Brot und Wein bringt, erfüllt erhält. Es ist ein Werk, das einen Ehrenplatz in einer Festwoche des religiösen Films verdient hätte. Die Reihung ist überraschend, aber auch ein Zeichen dafür, welch ein gutes Publikum diese Berliner sind.

Der einzige wirkliche Festival-Film — denn der ursprüngliche Zweck von Filmfestspielen war es, diis Neue, den Sprung nach vorwärts in der Entwicklung, das effektvolle Experiment, die Avantgarde des Kommerzfilms zu zeigen — erhielt den dritten Platz: Otto Ludwig Premingers „Carmen Jone s“, Cinemascopeversion eines Broadwayerfolges, der im Libretto modernisierten, in die amerikanische Gegenwart verlegten, von Negern gespielten und gesungenen Oper Bizets. Carmen ist Fallschirmnähcrin, Don Jose der Korporal der amerikanischen Armee, den sein schwarzer Vorgesetzter schikaniert und der Torero wird zum Boxchampion. Wie sich hier die rhythmuserfüllte Musik Bizets mit dem Temperament der schwarzen Schauspieler und mit einer dem Rhythmus der Musik beigeordneten Breitwandfilmkamera zu einem mitreißenden Eindruck mischen, das ist sensationell, ein sehenswertes Experiment, das dem sicheren Theaterblick des einstigen „Wiener Reinhardt-Regisseurs“, wie man ihn in Berlin ankündigte, Ehre macht.

Verdient ist der vierte Platz von „B rot, Liebe und Eifersucht', eine Fortsetzung des Erfolges von Gina Lollobrigida und de Sica, die hinter dem Anfang nicht zurückbleibt. Den lustigsten Film der Festspiele brachte dann Oesterreich mit der Kästner-Verfilmung „Drei Männer im Schnee“, der pointensicher, wenn auch ohne Tiefgang. Lachstürme entfesselte. Er steht vor der Schreckensballade „Hiroshima“ Japans und dem kühlen Zeitfilm Großbritanniens „Das g et eilte Herz“, in dem eine deutsche (Cörnel Borchers) und eine jugoslawische Mutter um ihr Kind streiten, “ein mehr errechneter, als erfühlter Füll eines Nachkriegsschicksals. Dahinter kommt an achter Stelle der feine britische Film „Die j u n-gen Liebenden“, der das Romeo-und-Julia-Thema in der Liebe eines Mitarbeiters der amerikanischen Botschaft zu der Tochter eines östlichen Gesandten als zeitlose Ballade im Gegcnwartskleid behandelt. Anthony Asquith ist der Regisseur. Die neunte Stelle erhielt Frankreich mit einer heiteren Klcinbürgerstudie „Papa, Mama, Kathrin und i c h“, einem Film voll schlichter Menschlichkeit, und an zehnter Stelle stand der britische satirische Zeichenfarbfilm „Die Farm der Tier e“, eine Karikatur und Satire auf die Diktatur, reizvoll gemacht und in seinem Thema für Berlin spürbar nahe.

Daß als lange Dokumentarfilme Walt Disneys neues Wunder „Wunder der Prärie“, in dem er das Kleinleben der weiten Grasflächen Amerikas mit der Kamera belauscht, Italiens „Der verlorene Kontinent“, ein dramatisch und mit virtuoser Photographie aufgemachter Bericht über Polynesien und der Bericht über die deutsch-österreichische Himalajaexpedition „Im Schatten de* Kaiakorum“ (Deutschland) an der Spitze stehen, überrascht nicht. Alle drei Filme sind Spitzenleistungen ihrer Gattung.

Es gäbe auch unter den nicht ausgezeichneten Filmen manche zu erwähnen — das Programm umfaßte ja nicht nur die Filmvorführungen, sondern ebenso eine Rückschau auf die Filmgeschichte mit Stumm- und Tonfilmvorführungen, zahlreiche zwischendurch eingeschachtelte Sondervorführungen und eine pausenlose Folge von Empfängen, in denen Stars und Produzenten, Filmkaufleute und Journalisten, Bekannte und Unbekannte nach geheimnisvollen Regeln durcheinandergewirbelt wurden. Aber das Gesamtresümee ist kurz: die Entwicklung des Fiims hat sich verlangsamt. Aber auch bei schnellster Entwicklung könnte es nicht für drei und mehr Festivals im Jahr genug Sensationen geben.

Dennoch bot Berlin einen guten Querschnitt: einen Festifalfilm und darum herum viel gute menschliche Substanz und viel Humor und Heiterkeit.

Das ist tröstlich. Denn der Film ist ein Tor zur Welt, ein Tor zur Phantasie. Er bleibt der große Geschichtenerzähler. Man macht Filme nicht für die Snobs, sondern für die Masse des Publikums. Ob in den Fiimpalästen, in der 25.000 Zuschauer fassenden Waldbühne oder am Corso nahe-der Ostzone: Berlin machte seine Festspiele zu Festspielen des Publikums. Es durchstößt mit ihnen den unsichtbaren Vorhang, der e* umschließt, und gibt der Welt eine Gelegenheit zur Begegnung von Menschen und Filmen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung