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Fliegen ohne Angst

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YVONNE, DIE NEUNZEHNJÄHRIGE junge Dame aus Paris, legte den Kopf entspannt auf die Nackenstütze ihres Sitzes. In der Touristenklasse der Boeing 707 war es still geworden. Yvonne hatte den Sicherheitsgurte} für die Landung schon um die Hüfte geklippt, ihr Sitznachbar, ein Kaufmann aus Rio hantierte noch gelangweilt an den verchromten Schnallen. Das Mädchen, das nach Santiago de Chile reiste, genoß nun das Stiller- und-stiller-Werden der Düsentriebwerke und das leichte, schwebende Niedergleiten des Luftkolosses, der zur Zwischenlandung auf der Insel Guadeloupe im Karibischen Meer ansetzte. Die Sterne, deren stille Lichter die achttausend Meter hohe Bahn der Maschine bisher begleitet hatten, verschwanden, als der Düsenklipper in die Schlechtwetterfront eintauchte, die zur Zeit über dem Zwischenlandeplatz braute. Doch was sind für die moderne Technik schon Schlechtwetterlandungen, sie sind den meisten der hundertzwanzig Passagiere ebenso vertraut und gleichgültig wie eine Heimfahrt in einem Linienautobus bei Regen.

So fühlte Yvonne nur Entspannung und etwas wie träge Schläfrigkeit als es vor den Bullaugen des Flugzeuges schwarz wurde Spielerisch kreisten ihre Gedanken um Worte, die dieses Empfinden fassen könnten und … schnitten ab wie von einem jähen Blitz, dessen Donnerschlag man nicht mehr hört…

Die Szene war furchtbar für die Suchmannschaften, als sie sich endlich an die Unglücksstelle durchgearbeitet hatten. 20 Kilometer vor dem Flughafen war der 100 Tonnen schwere Rumpf des Klippers mit einer Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern zwischen die jahrhundertealten Stämme des Urwaldes gekracht, eine mehrere hundert Meter lange Schneise aufpflügend. Was man von den Insassen der in tausend Teile zerborstenen Maschine fand, erinnerte nicht mehr an Menschen. Es gab weder Zeugen noch Überlebende.

Die Boeing-Katastrophe von Guadeloupe vom 22. Juni 1962 ist nur eine der sich in regelmäßigen Abständen wiederholenden Abstürzen von Giganten der Zivilluftfahrt. Waren es anfangs noch vorwiegend viermotorige Kolbenmaschinen, die — wie jene von Shannon in Irland oder wie die des sogenannten Weihnachtswunders von Schwechat — bei Start oder Landung abstürzten, sind es mit zunehmender Umstellung auf Düsenmaschinen heute auch die großen Jet-Klipper die, meist in der Nähe von Flughäfen, ein furchtbares Ende finden.

WAS IST DIE URSACHE der wachsenden Zahl von Flugzeugkatastrophen?

Der Mensch als körperlich-seelisches Wesen scheint hinter den Errungenschaften der Mathematiker und Technologen, die ihm Fortbewegungsmittel schufen, mit denen er nahe der Schallgrenze Raum und Zeit überwinden kann, zurückgeblieben zu sein.

Zu schnell scheint der Sprung von einer Luftfahrt der wellblechbeplankten Himmelsbusse zu den geflügelten Raketen: den Caravellen, Boeings. DC-8 und den Cometen, vollführt worden zu sein. Die Luftfahrt fliegt heute gleichsam mit Dynamit und verhält sich, was Sicherheitsmaßnahmen und Personal betrifft, noch teilweise wie zu jener Zeit, als man „Petroleumbrenner“ zu lenken hatte.

Es ist auffallend, daß bei den Zehntausenden von Militärmaschinen, die täglich in der Luft sind, bei weitem nicht der Prozentsatz von Unfällen erreicht wird wie in der Verkehrsluftfahrt. Es ist ebensowenig zu übersehen, daß bei Fluggesellschaften, die über ein bestimmtes Kapitalniveau hinausgewachsen sind, äußerst selten oder praktisch nie Katastrophen auftreten, im Gegensatz zu den finanziell schwächeren Unternehmen.

FLIEGEN IST LANDEN, ist der Pilot geneigt zu sagen. Es bedarf höchster Konzentration, aller seiner Fertigkeiten und aller Erfahrung, um die Bewegung seines Flugzeuges aus dem „Element Luft“, wo es ganz anderen Gesetzen gehorcht als auf dem Boden, ins „Element Land“ zu bringen. Mit anderen Worten den Übergang zu finden aus dem Schwimmen im Wind ins Fahren auf Hartem, aus der dreidimensionalen Freiheit des Raumes in die oft gefährliche Beschränkung der Fläche.

DER TECHNIKER DER LUFTFAHRT hingegen neigt eher zu der Formulierung, daß Fliegen Starten sei. Beim Start muß die gesamte technische Einrichtung eines Flugzeuges auf Höchstbelastung beansprucht werden, um die am Boden klebende Maschine in den tragenden Luftstrom emporzureißen. Ein jähes Furioso, bei dem sich auch kleinste Material- oder Montagefehler tödlich rächen.

In beiden Fällen, bei Start und Landung, ist der Aufschlag auf der mit aller Schwerkraft ihr Geschöpf zurückfordernden Erde in Sekundenschnelle zu bewältigen, denn noch strömen unter den Flächen der Maschine keine kilometerdicken Windpolster, die dem Piloten bei Gefahr in größerer Höhe eine Reihe von Chancen bieten.

Komplizierte technische Geräte stellen doch alle Flugzeuge dar, die sowohl was die Pflege ihres Aufbaues wie auch die ihrer Motoren betrifft, einen hohen Aufwand verlangen. Einen Aufwand an erstklassigen Fachkräften und einen laufenden Austausch von Bestandteilen. Im Gegensatz zur Wartung anderer Beförderungsmittel, darf bei der Flugzeugpflege mit der Ergänzung abgenützter Teile nie bis zum Eintritt einer Störung gewartet werden. Technische Störung heißt hier meist: der Tod. 200 Prozent Verläßlichkeit bei den beschäftigten Fachkräften und 200 Prozent Ansprüche an die Materialqualität kosten viel. Ebenso kostspielig sind aber die langen Wartezeiten, während derer die Maschinen einer Liniengesellschaft versorgt werden müssen, anstatt im Betrieb zu stehen und Geld zu verdienen.

So ist es verständlich, daß Fluggesellschaften die nicht über allzugroße Mittel verfügen, oft in Versuchung geraten, auf dem Gebiet der Wartung ein nicht so drakonisches Maß anzuwenden, wie es in der Flugtechnik lebenswichtig ist. Dies gilt vor allem für Chartergesellschaften, die nicht regelmäßig ein bestimmtes Liniennetz befliegen, sondern nur eine Art Gelegenheitsarbeit verrichten. Ihre wirtschaftliche Lage ist oft so prekär, daß großzügige Investitionen in bessere Maschinentypen, Wartung und Pflege kaum möglich sind.

Die Chartergesellschaften beziehungsweise die kleinen, wirtschaftlich schwachen Fluglinien sind es aber auch, die, was das fliegende Personal betrifft, nicht so wählerisch sein dürfen, wie ein globaler Konzern des Luftverkehrs. Auch dies rächt sich oft hart. Denn hat die Maschine die technische Zerreißprobe des Starts überstanden, hängt ihr und ihrer Insassen Schicksal weitgehend davon ab, in welcher physischen und psychischen Verfassung der Mann am Steuer ist und wie er seine Kunst beherrscht. Vor allem die Landung ist mit zunehmender Geschwindigkeit eine Zerreißprobe für die Nerven des Piloten. Jeder noch so kleine Fehler in der Abschätzung von Fahrt, Höhe und Seitenwind sowie in der Handhabung der Steuer hat in Erdnähe meist tödliche Folgen. Trotz Atomforschung und Weltraumfahrt ist es der modernen Technik trotz verschiedener Ansätze hiezu noch nicht gelungen, den Piloten unserer Flugzeuge bei Start und Landung auch nur eine jener riskanten Manipulationen abzunehmen, die schon die Gebrüder Wright bei ihrem ersten Motorflug vor einem halben Jahrhundert zu bewältigen hatten. Selbst erfahrene Piloten können hier infolge vorübergehender Tiefpunkte ihrer Leistungsfähigkeit in schwere Gefahr kommen.

ALS SICH DIE ÖSTERREICHISCHEN Luftstreitkräfte auf Düsenmaschinen umzustellen begannen, war die Keimzelle des Piloten- und Tech- nikertrainings in dieser Fachrichtung der Flughafen Graz-Thalerhof. Drei englische Düsentrainer waren hier stationiert und unter der Leitung der wenigen in Österreich verfügbaren Düsenfluglehrer und Strahltriebwerkstechniker wurden hier Schulungs- und Wartungskurse abgehaltert.

Eines Tages blieb nach dem gründlichen Service, dem einer der sieben Tonnen schwerer Vampire-Trainer nach einem Einsatzflug unterzogen worden war, bei der Endmontage eine kirschkerngroße Schraube unauffindbar. Sie wäre aus dem Ersatzteillager sofort nachzuschaffen gewesen. Trotzdem befahl der damalige, erste Kommandant der Schulstaffel, die Maschine sofort aus dem Einsatz zu nehmen. Es mußte die, wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit, so doch bestehende Gefahr ausgeschaltet werden, daß die Schraube in einen der leeren Treibstofftanks gefallen war und beim nächsten Flug eine Störung verursachte. Die Vorsichtsmaßnahme hatte den mehrstündigen Ausfall eines der so dringend benötigten Schulapparate zur Folge. Wie sich herausstellte, war die Sorge des Kommandanten unbegründet. Die Schraube wurde nicht gefunden, sie mußte in eine der Ritzen des Hangarbodens gerollt sein.

Wird aber eine Privatfirma, die, auf kommerzieller Basis arbeitend, Fluglinien mit Düsenmaschinen führt, sich leicht dazu entschließen können, aus Sicherheitsgründen eine derartige Pedanterie der Wartungstechnik zu betreiben?

ABER NICHT NUR DER WARTUNGSTECHNIKER, auch der Pilot der die Maschine fliegt, muß, so unmenschlich es klingen mag, hundertprozentige Perfektion anstreben. Und diese Forderung ist vielleicht noch schwerer zu erfüllen als die der extrem genauen technischen Pflege. Denn hier spielen mathematisch nicht erfaßbare ideelle, psychische und biologische Fehlerquellen eine Rolle. Von so edlen Beweggründen wie Freundschaft, Vertrauen und Sympathie bis hinab zur Wurstigkeit und bewußter Außerachtlassung von Warnsignalen reicht hier die Skala. Und doch müßte auf einem Gebiet, wo exakte Vorausberechenbarkeit kaum Anhaltspunkte findet, die Erfahrung und die Beobachtung als Leitfaden herangezogen werden.

Heute wird aber immer wieder beobachtet, daß bei Fluglinien, die täglich Tausende von Düsenpassagieren durch die Stratosphäre führen, Piloten, die augenscheinliche Steuerungsfehler begangen haben, nur deshalb weiter im Dienst belassen werden, weil sie entweder zu den Senioren des fliegenden Kaders der Gesellschaft gehören, oder weil es sich die Firma einfach nicht leisten kann, durch derart radikale Maßnahmen einen übergroßen Verschleiß an den so raren und deshalb teuren Flugkapitänen zu riskieren.

Wird aber von einer Fluggesellschaft ein Pilot, der menschliche Schwächen zeigte, außer Dienst gestellt, so findet sich nicht gar so selten eine kleine Charterfirma, die das so freigewordene frühere „As“ nun ebenso billig erwerben kann wie eine außer Dienst gestellte Maschine.

EINE FLUGGESELLSCHAFT KANN ZUGRUNDE GEHEN, die Flugsicherheit darf aber keinen Abbruch leiden. Diese Maxime. muß kompromißlos Gültigkeit behalten.

Eine gesetzlich fundierte strenge Kontrolle der Gebarung der einzelnen

Fluggesellschaften wäre der erste Schritt, um bei den meisten Unfällen Abhilfe zu schaffen. Auf Grund international ausgearbeiteter Schlüssel wären die laufenden Ausgaben der Firmen für Sicherheitszwecke strenger zu prüfen als die rein kommerzielle Gebarung. Die für Wartungsmaßnahmen angelegte Summe müßte in einem festen Verhältnis zum Grundkapital und zum Umsatz stehen, dürfte aber, gemessen am Maschinenpark, ein bestimmtes Minimum nicht unterschreiten. An Fluggesellschaften, deren Kapitalsbasis solche Summen nicht zulassen würde, wäre erst gar nicht die Konzession zu erteilen.

Als zweiter Punkt wäre eine Liste über eindeutige Versager, der bei einer solchen Firma beschäftigten Piloten zu führen und wären diese Fehler von scheinbar noch so geringer Bedeutung. In regelmäßigen Abständen wären diese „Schwarzen Listen“ der Luftfahrtsbehörde vorzulegen. Hier hätte dann ein Komitee vereidigter Fachleute über die Weiterverwendung der betreffenden Piloten zu entscheiden. Die Meldung solcher Versager durch das Personal wäre durch eine Sonderverordnung ebenso zur gesetzlichen Pflicht zu machen, wie auf dem Gebiete der Jurisdiktion die Anzeigepflicht.

Es kann sein, daß solch rigoroses gesetzliches Vorgehen die Reihen der heute bestehenden Fluggesellschaften lichten und die Zahl der verfügbaren Flugkapitäne reduzieren würde. Doch die Verkehrsfliegerei steht an der Schwelle des Überschallfluges. Es werden Geschwindigkeiten entwickelt werden, die den Luftstrom an der Flugzeugfläche und an den Triebwerkschaufeln so hart und gefährlich machen, wie den Einschlag von Bleikugeln. Geschwindigkeiten, die Gefahren schneller an das Flugzeug und seine Insassen heranbringen, als die Nervenbahnen des Piloten Sinnesregungen vom Auge ins Hirn weiterleiten können.

Sollten wir deshalb nicht, ehe wir die Schwelle in dieses neue Zeitalter der Fortbewegung überschreiten, doch versuchen, radikal zumindest dort aufzuräumen, wo der Flugzeugtod verhütbar ist?

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